Die Frage, ob man sich als Mensch und als Persönlichkeit neu erfinden kann, insb. in und nach Lebenskrisen, ist wohl eine der interessantesten Fragen im Leben.
Als jemand, der durch dieses raue Wasser der persönlichen und beruflichen Neuerfindung schwamm, will ich ein paar Impulse und Antworten geben und vor allem einige grundlegende Fragen stellen.
Was heißt „Neu-Erfindung“?
In turbulenten Zeiten wird der Ruf nach Neuem, nach Anderen rasch laut. Nur weg aus dem verhassten Alten, raus aus den alten Schuhen. Es herrscht ein scheinbarer Druck, dauernd und immer in Bewegung zu sein. Es geht primär um die Bewegung im außen, denn die eigentlich wichtige Bewegung aus dem innen heraus, die gibt es kaum. Der Grund dafür ist rasch benannt: sich aus dem eigenen innen heraus zu bewegen, ist anstrengend, schmerzhaft und mühsam. Die Droge im außen ist da – scheinbar – viel rascher wirksam.
In so einem Prozess, den nahezu alle Menschen irgendwann durchlaufen, weil es Teil des Menschseins ist, zu wachsen und sich entwickeln, geht die Frage nach „was macht mich als Mensch und Persönlichkeit einzigartig?“ oft völlig unter. Viele sind von außen Getriebene, die innerlich hohl und leer sind. Das ist nicht grundsätzlich verwerflich. Es ist ein Faktum.
Krisen aller Art haben in der Beantwortung der Grundsatzfragen nach dem Sinn unseres Seins eine katalytische Funktion; anderenfalls kämen wir nie in die echte, die wahrhaftige Bewegung. Krisen als Wendepunkte führen uns, wenn wir es zulassen, mehr und mehr, tiefer und tiefer – und letztlich näher und näher an unseren wahren Kern. Dieser Kern ist vorhanden und will freigelegt und poliert werden.
Nun mögen Sie sagen, das mit dem Kern sei wieder so ein Schlagwort. Wer die Transformation wahrlich erlebt hat, wird Ihnen bestätigen, dass dies mit Schlagwort nichts zu tun hat. Sich dem eigenen, wahrhaftigen Kern zu nähern, ist wohl eine der herausforderndsten Aufgaben im Leben.
Also – was heißt in diesem Zusammenhang nun Neuerfindung? Im eigentlichen Sinn ist es keine Neuerfindung. Es kommt nichts, was nicht schon vorhandenen wäre, dazu. Sie lernen auch nichts dazu, was Sie in der Grundlage nicht schon bei und in sich tragen. Es geht also vielmehr um eine Freilegung dessen, was, oft gut verborgen, in einem schlummert.
Es ist so, als ob aus einem Marmorblock eine Statue geschaffen wird.
Wie geht man den eigenen Wandel an?
Antworten auf diese Fragen sind vielschichtig und vielfältig. Es gibt kein Kochrezept, das einfach mit wenigen Zutaten zusammengemischt und aufgekocht wird. Letztlich sind wir alle Einzelwesen und jede/r hat ihren/seinen Weg mit den mitgebrachten Anlagen, Fähigkeiten und Talenten, die natürlich verfeinert, perfektioniert und vervollkommnet werden können – mit Disziplin und Hingabe. Sorry, da führt kein Weg vorbei. Wachstum ist immer mit gewissen Schmerzen verbunden, weil der Ausstieg aus dem Altbekannten immer mit einer gewissen Unsicherheit und damit mit Angst verbunden ist. Überwiegen dabei die Neugierde, das Vertrauen und der Mut, dann hat Angst eine wesentliche regulative Funktion. Angst per se ist also nicht schlecht. Es kommt auf die Dosis an. …
Will man den eigenen Wandel selbst in die Gänge bringen, dann sind z.B. sich in die Stille und die Ruhe zu begeben, diese auch auszuhalten, mit Leere umgehen zu können und aus dieser inneren Leere heraus das Neue bewusst schöpfen hilfreich. Den eigenen Rhythmus zu erkennen, über Lebenszyklen Bescheid zu wissen und über das Bücher- und Workshopwissen hinaus zu leben, ist dann wesentliche weitere Ingredienzien dieser Reise im eigenen Sein und zum eigenen Kern.
Doch all das Wissen und auch die mit der Zeit einkehrende Weisheit sind nicht der Weisheit letzter Schluss, denn das Leben hat immer Überraschungen für uns bereit. Sie animieren uns, aufzuschauen und uns umzuschauen. Was gibt es denn ansonsten noch an Möglichkeiten? Leben ist immer Bewegung. Manches Mal unmerklich und sanft dahinplätschernd. Dann wieder abrupt und unbändig. Und dann gibt es Tausende Schattierungen zwischen den Polen. Das Leben ist immer auf unserer Seite. Es ist nie gegen uns, macht Angebote und zwingt uns nie. Wir mögen zwar keinen absoluten freien Willen haben, doch im Regelfall haben wir Wahlmöglichkeiten.
Ich erinnere mich im Jahr 2011 an eine Situation in meinem Arbeitsleben, wo ich mich vor eine Grundsatzentscheidung gestellt sah – bleiben oder gehen? Wenn gehen, wohin? Natürlich hätte ich weiter tun können wie bisher, in einer Leitungsfunktion, mit Titeln ausgestattet. Doch die echten Möglichkeiten, etwas zu bewegen, waren auserzählt. Wäre ich in der – scheinbaren – Komfortzone geblieben, wäre ich wahrscheinlich heute todunglücklich.
Der Ausstieg von der dekorierten Abteilungsleiterin unter lauter Männern in die Selbstständigkeit war zwar rasch vollzogen. Doch dauerte es 5 Jahre, bis ich dort angekommen war, wo mein Herzensverstand und das Leben mich haben wollten. Es war nicht immer angenehm und von einfach war dabei nie die Rede. Wachstum ist gelegentlich anstrengend und mühsam. Das durfte auch ich erkennen und erfahren.
Freiwillig oder erzwungen?
Diese Frage wurde mir oft gestellt. Ich bin freiwillig gegangen, doch irgendwie war auch Zwang vorhanden, da ich nichts mehr bewegen konnte. Es war also eine Mischung und die Erkenntnis, kurz vor der Lebensmitte es nochmals wissen zu wollen. Kann ich es, nochmals neu beginnen und durchstarten? Habe ich den Mut, in einem anderen Land diesen Neustart zu wagen? Vertraue ich ausreichend, dass mein Neues auch abhebt?
Ehrlich beantwortet: diese Fragen habe ich mir im Moment der Entscheidung, ins Neue zu gehen, nicht bewusst gestellt. Das tue ich seit einiger Zeit sehr schlau im Nachgang. Was ich schreiben will: ich hatte natürlich einen Plan. Doch wenn ich diesen Plan mit dem Weg seither und meiner aktuellen Zwischenstation vergleiche, dann hatte ich diesen Plan, um davon abweichen zu können.
Warum ist das so? Weil ich jemand geworden bin, der das Leben nicht zwingt, sondern der beobachtend auf das Leben schaut und sich von ihm führen lässt. 80 % sind aktive Beobachtung, Achtsamkeit, Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Betrachtung. 20 % sind konkrete Handlungen. Auch dieses Verhältnis hat sich in den vergangenen 3 Jahren herauskristallisiert. Weniger ist mehr. Doch da, wo Aktion stattfindet, ist sie sehr konkret, wohlüberlegt und durchdacht. Also kein Draufhauen aus einer Laune heraus.
Also doch ein Rezept?
Meine Gedanken klingen so, als ob es doch ein Geheimnis gäbe. Nein – das gibt es so nicht. Es gibt Ideen, die Sie durchprobieren können, wenn sie sich für Sie stimmig anfühlen. Also – Augen schließen, Hand aufs Herz, tief drei Mal durchatmen und wahrnehmen, was sich wo im Körper und vor dem inneren Auge zeigt.
Fragen Sie sich z.B.
Was kann ich so richtig gut?
Was bringt mein Herz zum Singen, also was macht mir richtig Freude?
Bleiben Sie vorerst formfrei. Legen Sie sich nicht mit vorhandenen Berufsbildern fest. Wir leben in flüssigen Ordnungen, wo sich Bekanntes vor Ihren Augen auflöst und Neues entsteht. Experimentieren Sie. Zuerst als Hobby und dann Schritt für Schritt auch ein Stück mehr.
Schaffen Sie sich ein materielles Fundament, das sie frei von Zugzwang hält. Ein mehrheitlich unerzwungener, sanfter Übergang ist wesentlich angenehmer als wenn man Hauruck Veränderungen vornimmt, vielleicht auch vornehmen muss, weil die alte Straße sich als Sackgasse entpuppt hat. Es gibt am Weg ins Neue immer wieder Überraschungen. Sie müssen sich nicht auch noch selbst Zusatzaufgaben erschaffen, die alles mühsam und anstrengend erscheinen lassen.
Offenheit, Selbstbeobachtung, Disziplin und Hingabe sind treue BegleiterInnen in dieser Phase des sich Findens. Wenn man das macht, was einem Freude bereitet – und die kommt aus der Offenheit und der Selbstbeobachtung. Dann kommt die Hingabe ganz von selbst; die Disziplin, also das Dranbleiben an einer Idee, an einem Traum, muss man sich aneignen und vor allem konsequent jeden Tag aufs Neue leben.
Schreiben Sie sich Ihre Erkenntnisse auf. Wer schreibt, ist zu klaren Gedanken angehalten. Sie sind die Grundlage für spätere Handlungen. Fragen Sie sich dabei immer wieder: Kann ich glauben, dass ich dieses und jenes schaffe? Wenn nicht, dann setzen Sie sich mit Ihrer Glaubensgrenze auseinander. Machen Sie kleinere Schritte. Finden Sie innerlich Halt und danach machen Sie den nächsten Schritt, und nur diesen. Niemand treibt Sie an – höchstens Sie selbst.
Nehmen Sie sich Zeit dafür, Ihren ureigensten Auftrag auf Erden zu erkennen. Dafür ist es wichtig, ganz ruhig zu werden und nach innen zu hören. Dort liegt die Antwort auf das, was wirklich wichtig ist. Wenn erforderlich, dann holen Sie sich Hilfe bei jenen, die es schon geschafft haben. Lernen Sie von den Besten. Da gibt es unzählige Möglichkeiten dafür. Auch ich nehme mich davon nicht aus. Und ich halte das für ausnehmend wichtig.
Wenn Ihnen scheinbare Fehler unterlaufen, dann sehen Sie diese als Erfahrungen am Weg und suchen sich einen neuen Weg. Vieles geht heute nur mehr übers Ausprobieren.
Auch Inhalte sind nicht mehr fix. Alles ist ein wenig flüssiger geworden. Damit tun sich viel schwer, weil die altbekannte Sicherheit fehlt. Nur – die gibt es nicht mehr. Hören Sie auf Sicherheit zu suchen. Sie finden sie nie im außen, sondern ausschließlich im eigenen inneren.
Üben Sie sich in Vertrauen und Mut. Damit meine ich ausdrücklich NICHT Übermut und überhöhte Risikofreude. Vielmehr meine ich damit, dem Leben auch eine Chance zu geben, zu zeigen, was es mit Ihnen vorhat und wo Sie wählen können und dann die nächsten Schritte gehen können.
Wenn Sie herausgefunden haben, was der Inhalt ist, dann denken Sie über die Form nach und finden Sie Ihre eigene Form. Wir leben in einer Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, wo alte Formen mehr und mehr an Sinnhaftigkeit und Gültigkeit verlieren. Sie erinnern sich – wir leben in flüssigen Ordnungen. Je klarer Sie im Inhalt sind, umso eher findet Sie die Form, wie Sie den Inhalt anderen zugänglich machen können.
Zum Abschluss ein Gedanke: Leben Sie! Vieles ergibt sich aus dem Spiel auf der Bühne, die man Leben nennt, wenn Sie dem Leben der ideale Kooperationspartner sind. Es wartet auf Sie und ist für Sie bereit. Nun liegt es an Ihnen!
Der Beitrag erschien erstmals am 17.1.2018 unter: http://www.huffingtonpost.de/entry/kann-man-sich-tatsachlich-neu-erfinden-fragen-impulse-antworten_de_5a5f2621e4b03ed177016f43
Zur Autorin: www.andrea-riemer.de
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