Kaum eine Biografie kommt ohne Widersprüche aus. Dies mag banal klingen, doch in dieser Einfachheit liegt eine tiefe Wahrheit. Widersprüche sind das Salz des Lebens. Wir erkennen das eine und das andere. Wir gehen auf eine Seite, um die andere Seite zu erkennen und kennenzulernen. Nicht immer freiwillig, manches Mal hineingeschubst – und dann sind wir dort drinnen, wo wir – eigentlich – nicht hin wollten. Doch, nun sind wir schon da – was machen wir damit? Wegstoßen geht schlecht. Mit dem Ignorieren kaufen wir Zeit –doch wofür? Wie kann man Widersprüche lösen? Warum soll man sie überhaupt lösen?
Mir ist bewusst, dass ich mit mancher Frage provoziere. Was ich will, ist, Impulse zum Nachdenken geben, zum Hineinfühlen, zum Sich-selbst-Erspüren – und zum geglückten Handeln. Ich will auch zum Ausstieg aus gesellschaftlich und persönlich konstruierten – scheinbaren – Widersprüchen motivieren. Gleich vorangestellt – für mich war und ist der Widerspruch oft das Ergebnis eines inneren Scheingefechtes und gleichzeitig der Treiber, der mich aus meiner so wohlvertrauten Komfortzone bringt. Das erfolgt gelegentlich unsanft. Dann ist es wieder fließend und nahezu selbstverständlich.
So will ich in vier Fragen dem Widerspruch entgegengehen und Impulse anbieten, wie man mit diesem Phänomen in unser aller Leben umgehen kann.
Was ist ein Widerspruch?
Ein Widerspruch ist eine „Entweder-Oder-Situation“, eine Situation, in der wir mit mindestens zwei Möglichkeiten konfrontiert sind, die wir wählen können und die uns – aus welchen Gründen auch immer – auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Nun gibt es in der naturwissenschaftlichen Welt mit Gesetzmäßigkeiten in dieser Welt eine Reihe von Beispielen. Ganz schlicht – heiß-kalt, Tag-Nacht, männlich-weiblich. Das oft zitierte Prinzip der Polarität und Geschlechtlichkeit wird als Erklärung herangezogen. Dem kann ich durchaus einiges abgewinnen. Doch will ich entgegenhalten, dass viele Widersprüche, die als absolut dargestellt werden, „hausgemacht“ sind. Sie sind das Ergebnis von Vorstellungsgebundenheit und Normengebundenheit der Sippe und des Kollektivs.
Wer sagt denn, dass man nicht beides machen kann – Muttersein und seiner Berufung nachgehen? Wer sagt denn, dass es unmöglich sei, Beruf und Partnerschaft harmonisch in Übereinstimmung zu bringen. Wo steht geschrieben, dass man Freude am Tun haben kann und dabei auch noch gutes Geld verdient? Wer sagt, dass man nachts nicht schreiben und arbeiten darf – das macht man doch nur unter Tags? Wo steht geschrieben, als wertebesonnener Mensch nicht auch mal ver-rückt sein zu können und etwas völlig anderes als bisher zu machen? Wer sagt, dass man als körperbewusster Mensch nicht auch mal etwas Süßes essen darf und gleichzeitig faul ist? Wo bitte …?
Das sind einige ausgewählte Klassiker – durchaus bewusst pointiert – in der Debatte rund um Widersprüche. Ich behaupte, dass in den meisten Fällen beides möglich ist, mit dem einen oder anderen zeitweiligen Kompromiss, mit Abstimmung, mit Hilfe, vielleicht nicht hier und gleich, doch bei guter Überlegung dann doch innerhalb einer überschaubaren Zeit.
Doch grundsätzlich und absolut widersprüchlich sind meine Beispiele nicht, wohl auch weil ich diese Widersprüche für mich aufgelöst habe, d.h. ein lebendiges Beispiel bin, dass „es“ möglich ist. Doch dazu ein wenig später.
Wie kommt es zum Widerspruch?
Sehr oft verorte ich die Quelle für einen Widerspruch in einer kollektiven Begrenzung, die in der generell transportierten Verallgemeinerung gipfelt. „Man macht das so“ halte ich für eine der gefährlichsten Formulierungen, weil sie eine Verantwortungsdelegation impliziert und uns aus der Handlung und der Eigenverantwortung bringt. Der Satz klingt für mich so als ob ein Schaf zum Scherer ginge. Er ist auch eine wundervolle Entschuldigung, dass die Auflösung des Widerspruchs eben jetzt und in Zukunft nicht möglich ist. Weggewischt, übertüncht. Weiter leiden als Anpassungsjunkie? Ich frage – wofür? Wer zwingt uns zum Leiden? Wer zwingt uns in die Akzeptanz eines Lebens im Widerspruch? Wer …?
Viele der Widersprüche begleiten uns einen beträchtlichen Teil unseres Lebens. Es beginnt im Kleinkindalter, wo wir besonders prägsam sind. Kinder sind ja ein wahres Biotop für die Implantierung von nachhaltig wirksamen Glaubenssätzen und Scheinwidersprüchen. Was ich schreiben will, ist – seien Sie sensibel und offen, bewusst und achtsam, wenn Sie denken und sprechen. Sprache schafft Bewusstsein. Es lohnt dabei, ab und zu weit im eigenen Sein zurückzugehen und zu erforschen, wo mögliche Wurzeln für den Widerspruch in einem liegen. Oft reicht das Erkennen – und ein leichterer Umgang ist möglich.
Wie erkennt man den Widerspruch?
Widersprüche im eigenen Leben entdeckt man rasch, wenn man sich ehrlich seine Grundwünsche, seine großen Lebensbilder, die man in sich malt, ansieht. Wenn der Konjunktiv mit „hätte, würde, könnte, sollte“ – dominiert, dann ist man schon nahe dran am Erkennen.
Dazu braucht es Selbstreflexion, Beobachtungsgabe, Bewusstsein und Achtsamkeit. Klingt nach viel, ist es am Beginn auch. Wie bei den meisten Dingen im Leben bringt regelmäßiges Üben, gepaart mit dem vielzitierten Mut und Vertrauen, einen sehr weiter am Weg zu sich selbst. Und darum geht es, nur darum.
Zudem – das Erkennen ist nur in der Stille und Ruhe möglich. Ansonsten übertönt das Getöse im Außen mit seiner Scheinwichtigkeit die anfänglich leise innere Stimme. Man kann sich natürlich mit Allerlei zudröhnen, doch die Widersprüche gehen erst dann, wenn man sie sich ansieht, sie wahrnimmt und ihnen Gehör schenkt – frei von Verteilungen und Wertungen. Es geht – leistungsdruckfrei – ums bloße Wahrnehmen und Erkennen, d.h. ums Zuordnen, um die nächsten Schritte tun zu können.
Wie geht man mit dem Widerspruch um?
Es gibt mehrere, sich ergänzende Möglichkeiten, mit Widersprüchen umzugehen. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und lesen Sie die folgenden Zeilen als Anregung, vielleicht ein wenig als Prozess.
Hilfreich ist beispielsweise die Einnahme einer Turmposition. Sie können sich auch als Adler über die Lage erheben. Seien Sie durchaus fantasievoll. Doch – bleiben Sie nicht im Kampfgetümmel, wo Sie bestenfalls eine Sichtweite von einem Meter auf 180 Grad haben – und das auch nur bei sehr viel Erfahrung und Achtsamkeit. Im Kampfgetümmel finden Sie die Lösung nicht. Albert Einstein meinte sinngemäß, dass man ein Thema nie auf der Ebene lösen kann, wo es entsteht. Man muss eine Ebene drübergehen. Das meine ich mit dem Bild des Turms und des Adlers. Also – bevor Sie sich im inneren und äußeren Kleinkrieg oder auch größeren Krieg verstricken und den Widerspruch immer stärker und drängender erscheinen lassen – nehmen Sie sich heraus und gucken von oben drauf. Hier finden Sie auch die Lösung, die sehr oft dann ganz anders erscheint, als wenn Sie mittendrin sind. D.h. der Widerspruch ist ein Scheinwiderspruch, gedankengemacht, kollektivgemacht und nachgemacht.
Eine weitere Möglichkeit ist, sich für eine Seite nach Beurteilung der Optionen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten – auch eine Nichtentscheidung ist eine Entscheidung. Sie bleiben im Getümmel, in Ihrer Komfortzone … und leiden grandios weiter. Darf sein, muss nicht sein. Wenn Sie eine Entscheidung treffen, gehen Sie voran. Fragen Sie nicht nach dem – „was wäre geschehen, wenn …?“. Sie erhalten nie eine befriedigend-erklärende Antwort. Es wird immer Hypothese bleiben, genährt von vielen Zweifeln, Rück- und Seitschritten. Vor allem jedoch entziehen Sie ihrer getroffenen Entscheidung die so wichtige Energie für die Voranbewegung. Hören Sie auf, sich Ihr Recht zu fertigen. Das schwächt Sie und die Seite, für die Sie sich entschieden haben.
Die dritte Möglichkeit ist, den Widerspruch ganz beiseite zu lassen und sich völlig anders anzunähern. Warum nicht? Wer sagt, dass Sie es der Masse nachmachen müssen? Sie sind einzigartig. Daher verdienen Sie auch einzigartige Lösungen. Die kann man fantasievoll und kreativ für sich erstellen, neu, anders – denn eine Gelinggarantie gibt es nicht.
Und wenn Sie sich noch ein bisschen tiefer mit den Widersprüchen in Ihrem Sein befassen, dann fallen Ihnen sicherlich noch weitere Wege rund um und aus dem Widerspruch heraus ein. Davon bin ich vollkommen überzeugt … auch weil ich es so immer wieder machte.
Zum Abschluss ein Gedanke als Anregung:
„Innere Widersprüche sind die Quelle für Wachstum im Leben – gleich wie anstrengend es manches Mal sein mag. Oft leiten Widersprüche die Wende ein, die auch als Krise bezeichnet wird. Dann beginnt die eigentliche Reise ins Sein.“
Aus: Andrea Riemer, Botschaften vom Leben, dielus edition, Leipzig 2018 (mehr dazu samt Leseprobe unter https://www.andrea-riemer.de/das-neue-buch-botschaften-vom-leben/).
Der Beitrag erschien erstmals am 22.2.2018 unter https://spirit-online.de/widersprueche-die-eigentlichen-treiber-im-leben.html
Zur Autorin: www.andrea-riemer.de
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