Als Buchautorin und Vortragende befasse ich mich seit vielen Jahren in meinen Arbeiten immer wieder mit dem Urgrund des menschlichen Seins, mit Liebe. Sie ist das mich am stĂ€rksten hereinfordernde Thema. Sie lĂ€sst mich nie los und ich betrachte sie jeden Tag neu ⊠in ihrer Vielgestaltigkeit, in ihrer Unscheinbarkeit, in ihrer GröĂe â und in allen Zwischenschattierungen. Mehrere meiner Arbeiten widme ich Liebe â ohne auch nur im Ansatz zu einer verbindlichen Antwort zu kommen. In dem Moment, wo ich versuche, das Wesen von Liebe zu erfassen, komme ich innerlich ins Straucheln. Die Liebe gibt es meiner Ansicht nach nicht. Sie kann nicht besessen, nicht bezeichnet, nicht domestiziert, nicht kategorisiert werden. Sie ist vielfĂ€ltig, vielschichtig und Liebe ist ein Kind der Freiheit und lĂ€sst sich mit Worten und Konzepten nicht fassen. Nein â Liebe IST schlicht.
Liebe ist ein Kind der Freiheit und lÀsst sich mit Worten und Konzepten nicht fassen.
Nun gut, was tun wir mit dieser Erkenntnis? Sind wir nun einen Schritt weiter oder stagnieren wir am Platz und fĂŒgen uns gottergeben in etwas ein, das ist und gleichzeitig doch nicht ist? Blicken wir staunend auf etwas, das wir ach so gerne hĂ€tten und oft nur fĂŒr Momente in unserem gesamten Sein er-fĂŒhlen?
Ich gelte als offen und experimentierfreudig. Also will ich einen Versuch starten. Ich mache ist eine AnnĂ€herung, ein Herantasten an das Geheimnis, das Liebe seit jeher sehr gut gehĂŒtet hat. Wird sie sich zeigen? Werde ich sie wahrnehmen können oder wieder und wieder an ihr vorbeilaufen, weil ich konkrete Vorstellungen habe? Werde ich von ihr ĂŒberrollt, ĂŒberschwemmt werden? Ich bleibe jedenfalls neugierig. Bleiben Sie es auch.
Mir ist bewusst, dass ich den Weg nicht ĂŒber die Wissenschaft, die Hirn- und die Herzforschung finden kann, dass mir Psychologen und Philosophen bestenfalls Impulse geben können und jedes noch so schöne Gedicht zu Liebe auch nur einen Vorgeschmack geben auf das, was Liebe ist. Es ist also der Weg ĂŒbers Herz, der uns einen Zugang zu Liebe eröffnet. Ich meine dieses mehr gefĂŒhlte Zentrum unseres Seins, das sich aller Logik entzieht. Ich meine, man kann sich resonant fĂŒr Liebe machen. Eine kopfgesteuerte Absicht ist meiner Erfahrung nach kontraproduktiv. Man lĂ€uft zielsicher an dem, was Liebe uns bietet, vorbei.
Die Liebe zeigt sich ĂŒber den Weg ins Herz.
Wo fĂ€ngt man also an – mit dem AnnĂ€herungsversuch? Sehen wir uns die verschiedenen Spielformen von Liebe an. Das mag wenig romantisch klingen, doch Liebe hat mit Romantik nur am Rande zu tun. Diese AnnĂ€herung ĂŒber die Spielformen, ĂŒber die Vielschichtigkeit und Vielfalt von Liebe hilft, sich ihrer bewusst zu werden â wenn man sie lĂ€sst. Damit will ich einen Impuls geben, das Herz zu öffnen und sich dieser Kraft bewusst zu sein.
Liebe ist ein vielfÀltiges und vielschichtiges Geschöpf.
Ich liebe die alten Denker â Denkerinnen gibt es nur einige wenige wie z.B. Sappho. Sie hat uns einiges zu ihrem VerstĂ€ndnis von Liebe ĂŒberlassen. Also â zu den alten Denkern ⊠vielleicht ist das auch ein Zeichen, dass das Wesen von Liebe bislang nur in Scheinkategorien erfasst wurde. Ich spekuliere ein bisschen ⊠Nun denn. Wo ich beginne â das ist reine Geschmackssache. Ich fange mit der Erotik an; scheint ja fast naheliegend. Irgendeinen Einstieg braucht es an, um die in die GĂ€nge zu kommen. Und das wollen wir ja ⊠also lassen Sie uns einen gemeinsamen Blick hinter die Kulissen von Liebe machen. Ich bin sicher, Sie entdecken das eine oder andere weniger Beachtete.
Ăros, die so sinnliche Facette von Liebe, die sich im Begehren eines geliebten Objekts, im Wunsch geliebt zu werden und in der Passion fĂŒr jemanden oder etwas ausdrĂŒckt, vor allem seelisch und auf den ganzen Menschen bezogen. Ăros kann sich in der Anziehungskraft von Ideen manifestieren. Das mag man immer wieder vergessen â ach, wie stark können Ideen binden âŠ? FĂŒhlen Sie mal hinein ⊠nein, nicht denken, fĂŒhlen. Es ist dieses Ziehen in der Herzgegend, das Pochen, das dann folgt ⊠manches Mal ist es ein maliziöses LĂ€cheln, ein Drehen und Wenden. So fĂ€ngt es an âŠ
Ganz anders die PhilĂa, die Liebe zwischen Freunden, die sich eigenstĂ€ndig oder aus dem Ăros heraus entwickeln kann. Sie drĂŒckt sich in einer Gegenseitigkeit aus, im Verstehen und Annehmen des anderen auf seelischer Ebene. Es ist ein HerzensgefĂŒhl des gegenseitigen Daseins. Es ist die innere Gewissheit des Gehaltenseins. Liebe zeigt sich in VerlĂ€sslichkeit, Vertrauen und in LoyalitĂ€t, gleich wie der andere sich prĂ€sentiert. WĂŒrden Sie das als Liebe bezeichnen? Oder sind die Facetten nicht Teil Ihrer Vorstellung. Lösen Sie sich davon â und Sie werden ĂŒberrascht sein, was sich dahinter verbirgt, hinter den alten Vor-Stellungen, die mehr verstellen und verstecken als sie enthĂŒllen.
In der AgĂĄpe ist Liebe wohl die sonderbarste Form, weil sie sich selbstlos gibt und das Wohl des jeweils anderen im Auge hat. In dieser geistigen Form, die in der Erkenntnis ruht, findet man Liebe heute nur mehr selten. Bei AgĂĄpe denkt die eine und der andere vielleicht an das gemeinsam Essen und Trinken nach einer kirchlichen Feier. Seit einigen Jahren ist es schick, eine AgĂĄpe nach einer Hochzeitsfeier abzuhalten. Zusammensein, sich austauschen, miteinander Speis und Trank teilen â teilen â das ist der Schwerpunkt von AgĂĄpe. Es ist das Erleben von inniger Gemeinschaft als Form von Liebe.
In der Charis steht Liebe fĂŒr das Erbarmen mit dem anderen, fĂŒr die Achtung und WĂŒrdigung des Einzelnen, fĂŒr Wohlwollen und Mitmenschlichkeit, fĂŒr FĂŒrsorge und Respekt, so wie Eltern dies gemeinhin tun. Vielen ist die Caritas bekannt â nicht fĂŒr Sie, nicht fĂŒr mich â fĂŒr die da, die eben erst ankamen. Abgrenzen und ausgrenzen â das hat nur nichts mit Charis und Caritas zutun, auch wenn das Grenzen setzen wesentlich ist, um im Eigenen ĂŒberleben und sein zu können. Mit Charis ist das also ein gar nicht so einfache âSacheâ, die es ja nicht es, denn Mitmenschlichkeit hat nichts mit einer âSacheâ zu tun, sondern kommt aus dem tiefsten Inneren. Das ist jener Bereich, wo viele nicht so gerne hinblicken, geschweige denn hingehen. Damit bleibt ihnen ein wesentlicher Aspekt von Liebe verschlossen, was durchaus bedauerlich ist.
Liebe als Pietas, als Verehrung, Bewunderung, als das ungetrĂŒbte gegenseitige Einvernehmen klingt fast ein wenig mittelalterlich und erinnert sehr an die heute kaum mehr existente Minne. Die Form von Liebe ist uns in unserer dahinschwirrenden Zeit vollends verloren gegangen. Gehen Sie hinaus und fragen Sie wahllos jemanden auf der StraĂe, ob er bzw. sie damit etwa anfangen kann. Und â damit das geklĂ€rt ist â die Verehrung von Popstars und SportlerInnen fĂ€llt meiner EinschĂ€tzung nicht unter diese Kategorie. Es ist die stille Bewunderung fĂŒr das Sein des anderen, die einen Geschmack von Pietas anbietet. Pietas ⊠vielleicht einen zweiten Blick wert. Man muss es ja nicht ĂŒbertreiben.
Sanctitas, die etwas altertĂŒmliche Form der heilenden und heiligenden Liebe, die Liebe der Unversehrtheit und Reinheit, der geistigen WertschĂ€tzung â auch sie ist aus der Mode gekommen. Ohne mich zu wiederholen â schlag nach bei Pietas.
Eunoia, die NĂ€chstenliebe, auch die ist uns schon ziemlich abhandengekommen in dieser Welt der Konkurrenz. Wo sind das MitgefĂŒhl und die Verpflichtung zum Dienst am anderen? Sie sind uns mehrheitlich verloren gegangen? Das gilt auch fĂŒr das MitgefĂŒhl fĂŒr uns selbst. In einer Leistungsgesellschaft ist das Leben der NĂ€chstenliebe ebenso fordernd wie in Gesellschaften, die als flĂŒssig bezeichnete werden, wo das Alte mehr und mehr erodiert und in sich zusammenfĂ€llt. Da ist man sich doch eher selbst die/der nĂ€chste.
Liebe ist viel mehr als wir gemeinhin annehmen. Manches davon ist in Vergessenheit geraten.
Betrachten wir dieses Wesen der Freiheit weiter. Storge, die Liebe der Kinder, die reine, unschuldige Liebe. Wir wĂŒnschen sie uns immer wieder, gleichwohl tun wir uns schwer, sie als Erwachsene zu geben. Zu viele Erfahrungen und zu groĂe Erwartungen hindern uns daran. Zu viele Trennungen haben den Glauben an diese Form kleingemacht. Und â doch das Streben danach darf nie aufhören, weil es eine der reinsten Formen von Liebe ist.
Dann gibt es natĂŒrlich die Liebe der Eltern zu ihrem Kind. In dem Bereich wurde Liebe in den letzten Jahren viel diskutiert ⊠und doch kaum erlösend und befreiend gesehen oder gar gelebt. Vielleicht auch, weil sich die Rolle der Eltern in den letzten Jahren verĂ€ndert hat, auseinandergedriftet ist, verkannt und vermischt dargestellt wurde. Vielleicht auch, weil man die Elternliebe oft erst als solche erkennt, wenn man selbst Kinder hat und wenn man die eigene Endlichkeit begreift.
Ab und an ist Liebe auch sehr pragmatisch. DafĂŒr gibt es keinen eigentlichen Namen, wenngleich es Liebe in dieser Spielform viel lĂ€nger gibt als die romantische Liebe. Sie prĂ€sentiert sich als eine Investition in den anderen, als NĂŒtzlichkeit, um Einsamkeit zu vermeiden und die wirtschaftliche Grundlage zu sichern. Dann wird Liebe zur Sicherungsgemeinschaft, zur Absicherungsgemeinschaft, zur Gesellschaft fĂŒr gegenseitige BedĂŒrftigkeitsbefriedigung, zur Brauchgemeinschaft und zu einem TauschgeschĂ€ft. Hat das dann noch etwas mit Liebe im tiefsten Sinn zu tun? Wohl kaum ⊠und doch hast du in dieser Form viele Jahrhunderte ĂŒberdauert. Vielleicht brechen gerade deshalb jetzt so viele Beziehungen aller Art auseinander, weil die Pragmatik nicht mehr wichtig ist. Vielleicht auch, weil die Eigenwahrnehmung sich verĂ€ndert hat. Wo das Herz fehlt, da tut sich die Liebe sehr schwer, einzukehren und auch gerne zu bleiben.
Die Liebe ist wohl das VielfĂ€ltigste, UnergrĂŒndlichste und gleichzeitig am meisten Angestrebte im menschlichen Sein. Sie ist einnehmend, befreiend, widersprĂŒchlich.
Was tun wir nun mit dieser Vielfalt an Spielformen der Liebe? Erkenntnisse sind immer gut. Doch was ist die köstliche Nutzanwendung? Ist dies die falsche Frage, weil Liebe nie einen messbaren Nutzen bringt?
Ich halte es fĂŒr hilfreich, die Spielformen im Urgrund unseres Seins als Kompass zu nehmen und uns emotional und empfindungsmĂ€Ăig zu orientieren. Liebe ist vielfĂ€ltig und lebt sich jeden Tag anders. Lassen wir doch diese Vielfalt zu. Mehr ist bei Liebe auch gar nicht erforderlich. Liebe will gelebt werden. Liebe will erfahren werden. Wahre Liebe ist ein Seinszustand, der alle Hindernisse ĂŒberwindet. Liebe beginnt in uns selbst â nie irgendwo und bei irgendwem â nie IN UNS. Wenn wir das begreifen, dann sind wir einen ganz groĂen Schritt in Richtung Liebe weitergekommen. Dann erst kann sie sich in der Beziehung zu anderen entfalten. Sie braucht Freiheit und bedeutet zugleich Verpflichtung.
Und â Liebe als Urgrund unseres Seins kennt weder Anfang noch Ende.
Der Beitrag erschien erstmals unter: http://www.heldenderliebe.com/gastbeitrag/die-liebe-urgrund-unseres-seins/ im Januar 2018
Zur Autorin: www.andrea-riemer.de
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