Andrea Riemer: „Wenn Dein Außen bricht, was hält Dich dann in Deinem Innen?“

Als Best Agerin, d.h. als jemand, die in der Mitte ihres Lebens ist und einiges an Erfahrung naturgemäß mitbringt, befasse ich mich seit vielen Jahren mit der Frage „Wenn Dein Außen bricht, was hält Dich dann in Deinem Innen?“ In diesen Gedanken verbinde ich gerne die kollektive mit der individuellen Ebene, weil dann Erklärungen sehr viel deutlicher sind, als wenn man sich nur aus der oft sehr beschränkten und eingegrenzten Einzel- oder nur aus der sehr weiten, scheinbar grenzenlosen Gemeinschaftsperspektive mit Brüchen befasst. Es ist die Verbindung beider Perspektiven – im Sinne eines „so wie oben, so unten – so wie unten, so oben“. Man kann die hermetischen Prinzipien ja auch beim Thema innen-außen sehr einfach anwenden.

Viele von uns sind nach wie vor primär am Außen orientiert. Sie lassen sich beeindrucken und blenden – von Zahlen, Daten, Fakten, von Normen, kollektiven Vorgaben und von Schönheitsidealen. Für viele unangenehm, blicke ich gerne hinter den Horizont und in die Tiefe unseres Seins. Dort finde ich immer wieder – wie eine Goldschürferin – Hinweise, wie Neues aussehen kann. Dort finde ich das, was mich im Innen hält, wenn in meinem Außen alles bricht – und das ist mir einige Mal bereits passiert. Sie lesen – ich bin noch immer da, kräftiger denn je zuvor.

So will ich in den folgenden Zeilen den Weg von Außen nach Innen gehen und sehen, was uns generell in großen Innen halten kann, denn dass unser Außen am Brechen ist, ist ja unzweifelhaft der Fall. Gelegentlich ist der Verstand dabei ein äußerst wertvoller Diener, um nicht vom Gesamt- und Individualgeschehen überschwemmt zu werden und die Orientierung samt Kompass zu verlieren. Alles im Sinne der Spiegelbildlichkeit, der gegenseitigen Verwobenheit und der gegenseitigen Beeinflussung.

Was tut sich im Außen?

Ganz grob zeigen sich seit Jahren fünf große Pfade, die miteinander verwoben sind und uns in das mittlerweile bekannte Labyrinth der sogenannten breiten Realität führen:
Die Wahrnehmung von Realität hat sich verändert. Die Realität bzw. das, was dafür gehalten wird, wird von scheinbar objektiven Bildern in Echtzeit, die bei politischen Entscheidungsträgern wie bei den Bürgern unmittelbare Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen auslösen, geprägt. Alte, zum Teil sehr lange Zyklen, neigen sich synchron in einer sich überlagernden Art und Weise dem Ende zu. Die neue Grundwahrnehmung ist in vielem noch unspezifisch und unklar. Sie ist mehr ein Gefühl denn ein Faktum. Wir schwimmen mehr durch unbekannte und gelegentlich raue Gewässer – Ziel? Nicht immer klar.

Es gibt eine Erosion des klassischen Verständnisses von Macht und ein nie vorher gekanntes, breiteres und vielschichtigeres Spektrum von Macht. Dies drückt sich z.B. in einer höheren Partizipation, in einer Ermächtigung von größeren Gruppierungen und einer Dezentralisierung von Macht aus. Neue Gruppen kommen hinzu, alte verlieren an Bedeutung und verschwinden.

Wo steht man da als Mensch? Wer gibt einen Halt? Wer steht wo – neben mir, ober mir, unter mir, vor mir, hinter mir? Der Einzelne fühlt sich heute gleichzeitig selbstbestimmt und ist mehr denn je als autonomer Teil eines größeren Ganzen (z.B. Erfindung des Internet, von sozialen Medien). Die Meinung Einzelner erhält dadurch eine neue Qualität, wobei die Halbwertszeit von Wichtigkeit und Bedeutung oft gegen Null tendiert. Heute Medienstar, morgen eine Nullnummer.

Das gesellschaftliche Sein ist hyper-ökonomisiert. Die Ökonomisierung ist ein seit Jahrzehnten andauernder Prozess in unterschiedlichen Qualitäten. Gleichzeitig stellt sich das gesamte Finanzsystem völlig in Frage. Börsen und sogen. Realwirtschaft sind voneinander entkoppelt. Ökonomische Grundgesetze sind seit Jahren außer Kraft gesetzt. Das Paradoxe hat Einzug gehalten – und wir kommen mit Erklärungsansätzen nicht mehr nach.

Eine veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung führt zu qualitativ neuen Erfahrungswelten. Mehr und mehr merken wir, dass Raum und Zeit zutiefst menschliche Orientierungskategorien sind. Die Raschheit und Vernetzung von Entwicklungen lässt immer mehr Menschen in einer gewissen Rat- und Verständnislosigkeit für das, was sich im Außen zeigt, zurück.

Was tun wir mit bekannten Modellen in der Leere unseres Seins?
Ich beobachte vor allem seit gut drei Jahren, dass bekannte Modelle, die wir oft reflexhaft heranziehen, an allem und jedem vorbeizielen. Sie gehen ins Leere und hinterlassen eine Ent-Täuschung. Wer also gewohnheitsmäßig antwortet und keine Reaktion erzielt, ist mittlerweile verärgert und buttert oft noch mehr vom selben hinein – Wirkung: Keine. Wir stehen zur Zeit an einer T-Kreuzung. Es herrscht eine bemerkenswerte Verdichtung dessen, was noch der Lösung harrt. Zeit dafür? Keine. Es reicht. Jetzt ist der Moment, ins Handeln zu kommen und die verbliebenen Reste an Unerledigtem rasch zu wandeln.

Hier kommt das Innen mehr denn je ins Spiel. Das ist am Beginn höchst unangenehm, weil es voll von Gerümpel ist. Es sieht aus wie in einem jahrzehntelang unbenutzten Keller. Muffig, dunkel, man stößt dauernd wo an, weiß nicht recht, was es ist, erinnert sich dann doch vielleicht eventuell möglicherweise und geht tastend weiter.
Meine Kellergänge begannen vor gut 20 Jahren. Damals war ich Pionierin. Heute bin ich Pionierin. Ob mein Keller aufgeräumt ist? Ja – Sie fragen zu Recht. Dies ist kein einmaliger Prozess, sondern eine Daueraufgabe. Irgendetwas finde ich immer, mal klein, mal groß. Doch mit Bewusstsein, Mut und meinem Grundvertrauen als Basisausstattung geht es mittlerweile leicht. Die Kraft aus dem Innen hält mich, stabilisiert mich, weil ich ihr regelmäßig Aufmerksamkeit schenke, weil ich sie pflege und gut nähre. Und Zusammenräumen ist ja auch keine Einmalaufgabe. Wer regelmäßig putzt, hat es einfacher als die/der, der nur alle paar Monate oberflächlich durchsaugt.

Der Weg nach Innen als Grundlage zur Neuorientierung

Ist das auch ein Weg für Sie? Es gibt keine Standardantwort und auch kein Patentrezept. Es gibt Impulse, Anregungen, Hinweise. Was ich erkannt habe, lässt sich folgendermaßen umreißen:

Anerkennung, dass wir in einem ganz markanten, sich über mehrere Jahre ziehenden Bruch leben, der die gesellschaftliche Tiefenstruktur global beeinflusst – ergebnisoffen, wie es so schön heißt.

Aushalten einer gewissen strukturellen und inhaltlichen Leere. Wir wissen, dass wir im Moment nichts wissen. Das Leben besteht aus ein- und aus ausatmen und nicht nur aus einem davon.
Anerkennung, dass es wahrscheinlich kein sogenanntes Endergebnis geben wird, sondern eine Fülle von Zwischenergebnissen, die einander hochgradig beeinflussen und damit die nächsten Schritte bestimmen. Wir sind nicht planlos, doch Pläne haben eine neue Qualität der verstärkten Vorläufigkeit.

Wesentlich ist das Erkennen von Zyklen und Rhythmen. Damit ergeben sich gewisse Handlungen nahezu von selbst. Sich organisch hier einzufügen, gibt die Möglichkeit mitzubestimmen.

Übergänge, vor allem große gesellschaftliche Übergänge, und auch persönliche Übergänge verlangen eine Reduktion von Komplexität. Im Einfachen liegt die Lösung.,
Es sind Entscheidungen gefordert – und zwar ohne Gelinggarantie. Es geht vor allem um die bewusste Entscheidung.

Es fängt immer beim Einzelnen an. Vom Einzelnen aus ergeben sich Kooperationen, die auf echter Zusammenarbeit und auf Mitgefühl basieren.

Es wird andere Führungspersönlichkeiten geben müssen, Menschen, die mit sich im Reinen und in der Lage und willens sind, Verantwortung für sich und für eine Gruppe zu übernehmen. Wer sich selbst nicht führen kann, kann auch andere nicht führen.
Es gibt keine One-and-Only-Lösung. Es gibt viele verschiedene Wege, die sich ergänzen und auch widersprechen können. Das werden wir aushalten müssen.

Wer nicht mitgeht, wird auch überleben – in ihrer bzw. seiner Art und Weise – und das muss nicht unbedingt schlecht sein.

Wer mitgeht und sich auf den eigenen Weg macht, der wird anfänglich nicht unbedingt eine einfache Zeit haben. Doch sie/er hat eine realistische Chance, das eigene Leben zu führen, d.h. sich selbst sicher und lebend auf die andere Seite des Flusses zu führen.
Es entstehen neue Beziehungen, neue Möglichkeiten, Möglichkeiten, die wiederum zeitgemäß sind und Gestaltung mehrheitlich ermöglichen. Und dann wird es so richtig interessant, frei, natürlich und ohne Sicherheitsgarantie.

Man kann diese Liste sicherlich noch fortsetzen. Im Sinne einer reduzierten Komplexität will ich es dabei belassen. Und dann – dann folgt die interessanteste Zeit, jene der Leere. Es ist wie auf Watten schlagen. Nichts rührt sich – Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt. Selbst jene, die im komplexen Denken geübt sind, sind ein wenig planlos – in der großen Kosmischen Spalte. Dieses Niemandsland zwischen Alt und Neu fordert die/den Einzelne/n bis ins tiefste Innerste.

Es gibt wenige, die bereit sind, diesen Weg als erste zu gehen. Es gibt wenige wahrhaftige PionierInnen. Doch ihnen ist klar, dass es kein Zurück mehr gibt – wohin auch? Das Alte ist ja auch nicht mehr vorhanden. Es gibt kein Zurück nach Nirgendwo. Sie halten die Leere spielerisch aus. Sie haben viel Erfahrung damit. Diese geben sie auch gerne weiter, denn man kann es erlernen, die Leere auszuhalten … bei den MeisterInnen des Seins. Aus der Leere gebiert sich das Neue, das Andere … das für die Neue Zeit Wesentliche und vor allem Geeignete.

Machen wir uns dran. Nehmen wir Rückschläge mit Gelassenheit hin und bleiben wir am Weg – jede/r für sich und doch gemeinsam, denn: wir sind alle miteinander verbunden, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. HIER& JETZT ist die beste Zeit dafür – an dieser T-Kreuzung unseres Seins.
Erschienen in spirit-online.de

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