Taste of Power: „Der Regenwurm und der Unsinn des Lebens“

Es war an einem Freitag … ich war gerade mit meiner Doppelschicht fertig. Dreizehn Stunden feinstes Regenwetter lagen hinter mir. Ich wollte nur noch nach Hause. Eine heiße Dusche, ein warmes Essen und einen zarten Blick von meiner Frau.

Mit gesenktem Kopf lief ich ĂŒber den Asphalt. Die dicken Tropfen des Regens gaben ein faszinierendes Schauspiel ab, dass ich aber nicht so recht zu wĂŒrdigen wusste. Mein Blick erhaschte etwas was nicht sein sollte. Ich begriff nicht sofort, aber dann dĂ€mmerte es in meinem Kopf!

 

Warum begehen RegenwĂŒrmer so gerne Selbstmord?

Das war die erste Frage, die mich an diesem Abend nicht so leicht wieder loslassen wollte. Am Boden wand sich ein todesmutiger Regenwurm. Was sollte ich tun? Eingreifen und meinem Impuls folgen, den Wurm von der Straße glauben und ihn somit retten?

Ich konnte dem Drang ein Leben zu retten nicht widerstehen und nahm den Wurm mit bloßen HĂ€nden. Es gruselte mich ein wenig. Diese nackte, kalte Haut bildete einen unangenehmen Kontrast zu meiner warmen Hand. Ich spĂŒrte wie der Wurm sich wand und eilte schnell zur nĂ€chsten Wiese. Ich suchte ein dunkles PlĂ€tzchen und erklĂ€rte dem Wurm feierlich, dass er nun schnell in das Erdreich zurĂŒck kehren solle, der Himmel reiße schon auf.

Warum tue ich das? Sollte ich ĂŒberhaupt eingreifen, wenn der Wurm doch unbedingt mitten auf der Straße lang kriechen möchte oder störe ich damit den Lauf der Natur?

Meine Freundin Melancholia ist so dĂŒnnhĂ€utig, dass niemand sie je erblicken konnte. Sie begleitet mich manchmal meines Weges. So flĂŒsterte sie mir auch an jenem verhĂ€ngnisvollen Tag in mein Ohr, dass es schon mitunter etwas sinnlos sein kann etwas gut zu meinen. „Nun ja, wenn Du Deine Zeit nicht sinnvoller zu nutzen weißt.“

Ich hatte keine Lust auf dieses GesprĂ€ch. Sie ist immer so furchtbar destruktiv. So badete ich mich lieber in der tröstlichen Vorstellung, dass es sein kann, dass ich selbst einmal Hilfe bekomme werde, wenn ich einmal in einer Ă€hnlich ausweglosen Situation stecke wie dieser Wurm jetzt. Jemand wĂŒrde kommen und so selbstlos und heldenhaft sein wie ich. WĂŒrde stehen bleiben und sich um mich kĂŒmmern, mich in seine warmen HĂ€nde nehmen und mich in ein paradiesisches Leben tragen. Er trĂ€gt mich an einen sicheren geborgenen Ort, wĂ€hrenddessen mir klar wird, dass ich ohne seine Hilfe nicht ĂŒberlebt hĂ€tte.

Ehrlich, ich konnte beim besten Willen nichts auf dieser Straße erkennen, was dem Wurm von Nutzen wĂ€re!

Er hÀtte dort weder Futter, noch Erde, noch Artgenossen gefunden.

Warum hat er sich auf dem nassen Asphalt nicht umgedreht und ist von selbst zur grĂŒnen Wiese zurĂŒck gekrochen? HĂ€tte sich an ihrem satten GrĂŒn gelabt und den Duft des frischen nassen Erdreichs eingesaugt?

„Wer bist Du, dass Du fĂŒr den Wurm entscheiden kannst? Schon einmal darĂŒber nachgedacht, dass es fĂŒr ihn vielleicht das Höchste ist endlich im strömenden Regen dem Dunkel des Erdreiches zu entfliehen um einmal in Freiheit das Tageslicht zu erblicken? Mag sein das es die letzten Stunden seines Lebens sind, doch vielleicht ist es sein glĂŒcklichster Moment und der Nutzen unermesslich fĂŒr ihn!“

Melancholia nervt, aber was wenn sie recht hat.

Es war höchst vermessen. Wie dumm ich doch bin. Ich weiß so gut wie nichts ĂŒber RegenwĂŒrmer. Was weiß ich denn, was er fĂŒhlt und ob ich ihm nicht seines höchsten GlĂŒckes beraubt habe.

Weiß der Wurm, dass er es nicht schafft den ganzen Weg zurĂŒck zu kriechen, bevor die Sonne hervorbricht und das Wasser zum Verdampfen bringt, so dass er eines elenden Todes sterben muss? Nun, vermutlich weiß er es. Er hĂ€lt sich ja auch sonst bedeckt und weiß die Sonne durchaus zu meiden. Sicher hĂ€tte ihre Hitze ihn ausgedörrt oder er wĂ€re ĂŒberfahren worden. Seine Leiche hĂ€tte Ameisen zerlegt und verschleppt. Das hĂ€tte er doch wissen mĂŒssen!

Es ergibt einfach keinen Sinn und doch habe ich in meinem Leben schon unzĂ€hlige WĂŒrmer elend sterben sehen. Seit ich denken kann versuche ich immer wieder ein paar von ihnen zu retten. Die Zahl der WĂŒrmer, welche ich nicht retten konnte und sterben ließ, scheint endlos. Allein all jene, die an jenem Abend wohl noch meinen 10 MinĂŒtigen Fußweg gekreuzt hatten. Wieviele von ihnen hĂ€tte ich retten können, wenn ich nicht resignierend versucht hĂ€tte alle weiteren suizidalen WĂŒrmer zu ignorieren, nur um endlich nicht mehr zu frieren und die schmerzenden FĂŒĂŸe hochzulegen.

Noch eine andere Frage haftete sich wie eine Klette in meine Gehirnwindungen. Sie ist gÀnzlich anders und doch sehr Àhnlich.

Im Licht betrachtet finden sich sogar erstaunlich viele Parallelen zu den WĂŒrmern.

 

Was ist der Sinn der Menschheit und vor allem der Sinn ihres Unterganges?

Dies ist eine ganz wesentliche und grundsĂ€tzliche Frage die ja wohl mal gestellt werden dĂŒrfe. Sie erkundigt sich nach der Art, wie der Mensch sich verhĂ€lt. Der Sinn der Menschheit und vor allem ganz speziell dem Sinn des Untergangs der menschlichen Art. Die Frage nach dem ganz großen WARUM?!

Ich könnte es auch die Frage nach dem ganz Grossen Wurm nennen. In der Tat ist es der GrĂ¶ĂŸte, den die Menschheit jemals gesehen hat.

Der Mensch hat doch so prinzipiell die freie Wahl oder nicht? Warum gestaltet er die Welt, nur weil er es kann, zu seinem Verderben? Wieso gibt es Gewalt, Zerstörung und Krieg? Warum gibt es diese himmelschreiende Ungerechtigkeit? Warum ist es nicht möglich, alles zu verbieten, was einem anderen Lebewesen, egal welchem, Schaden zufĂŒgen wĂŒrde?

WÀre es möglich, dass wir unseren Besitz teilen, wenn wir genug haben? Warum ist es nicht verboten, Geld aus blutverschmierten Quellen anzuhÀufen? Aus welchem Grund wird das nicht gerecht an die Armen verteilt? Im Ernst niemand kann mit ehrlicher Arbeit jemals so viel Geld verdienen, dass er sich mehr als drei HÀuser und drei Autos leisten könnte!  Warum akzeptieren wir einander nicht so wie wir sind? Ja und dabei spielt es keine Rolle welcher NationalitÀt oder welcher Religion wir angehören. Es ist unerhelbich welcher Art wir sind, welches Alter wir haben und welches Geschlecht!

Unterschiede zu ziehen zwischen Mann und Frau, Transsexuellen, Queers, Lesbischen, Schwulen oder sonstigen Personen ist verrĂŒckt! Uns sollten keine Grenzen trennen.  Wir sollten einander respektieren und helfen.

Warum ist Recht kÀuflich? Warum gelten Menschenrechte nicht weltweit? Warum haben Tiere fast gar keine Rechte? Warum essen wir unschuldige Lebewesen und quÀlen sie auf brutale Weise?

Warum zerstören wir WĂ€lder und Felder, die uns Nahrung und Leben spenden? Warum vergiften wir unser eigenes Wasser? Warum wird jemand umgebracht, weil er die Wahrheit sagt? Warum wird jemand als PrĂ€sident bezeichnet, der lĂŒgt? Warum werden Mörder als Kriegshelden gefeiert? Weshalb leben wir Menschen in einer korrupten, gewalttĂ€tigen Welt? Warum ist es legal die Umwelt zu zerstören? Warum darf in Kriegen gemordet werden?

Weshalb sind Ausbeutung, Kinderarbeit und Prostitution Alltag auf der ganzen Welt?

Warum rennt die gesamte Menschheit einem einzigen Ziel entgegen? Ihrem eigenen Ende!

Warum halten wir nicht inne, obwohl wir lĂ€ngst wissen, was wir Ă€ndern mĂŒssten, um die Welt zu retten? Warum kĂ€mpfen wir nicht fĂŒr ein Leben in einer friedlichen, gesunden und gerechten Welt.

Warum ist das GlĂŒck des Lebens uns nicht genug? Warum genĂŒgt uns nicht die Schönheit dieser schĂŒtzenswerten Erde? Warum wollen wir immer höher hinaus, um jeden Preis, bis unsere FlĂŒgel in der Sonne verbrennen?

Der Mensch nimmt sich immer so wichtig. Er ist so klug, er mĂŒsste es doch wirklich besser wissen und doch verhĂ€lt er sich kein bisschen anders als der Wurm, der sich zu meinen FĂŒssen wand auf dem noch regennassen Asphalt in dessen PfĂŒtzen sich schon die ersten todbringenden Sonnenstrahlen spiegelten.

Glaubst du nicht auch, dass da der Wurm drin ist?

Ich fĂŒr meinen Teil lief noch einmal zum Asphalt zurĂŒck. Ich hob noch einige WĂŒrmer auf. Nicht, weil ich so die Welt rette und auch nicht, weil ich dadurch besser bin, sondern einfach weil ich so ein Mensch bin. Ich bin so und ich möchte in einer Welt leben, in der es Menschen gibt, die so etwas tun…

Taste of Power … Originalbeitrag …

Roswitha: Wusstest du, dass der Regenwurm umgangssprachlich ERDENWURM genannt wird?!?!

Bildquelle / Pixa Bay / Creative Commons