Gottes.Liebling.Mensch: „Abweichende Wahrnehmung (6)“, vom 13.04.2019

Abweichende Wahrnehmung 6

von Luxus Lazarz

Der Umstand

 

Man spricht desöfteren von den UmstĂ€nden, wenn wir Situationen, Dinge oder gar unsere Weltsicht zusammenfassen sowie als unmittelbar gegeben annehmen. Dies gleichgĂŒltig, ob wir uns damit gesegnet, belastet oder auch geschlagen fĂŒhlen. Der Umstand gibt es nicht her, heißt es dann oder auch,

ich bin in anderen UmstÀnden 
,
Die UmstÀnde sind bei mir anders als bei dir 
,
Du lebst in anderen UmstÀnden 
,
Mach dir nicht so viele UmstÀnde 
,
Manchmal benehme ich mich umstÀndlich 
,
Sei nicht so umstÀndlich 
,
Hab dich nicht so umstÀndlich 
,
Der Umstand traf ein 
,
UmstÀndehalber teile ich mit 
 usw.

Viele Entwicklungen in meinem Leben, hĂ€ngen anscheinend von den UmstĂ€nden ab und aus herkömmlicher Aussicht – selten nur bis gar nicht von mir. Jedoch ist es auch stets möglich, die UmstĂ€nde sich wandeln zu sehen. Insbesondere, wenn ich anderweitig abgelenkt bin, sie aus dem Blick verliere, erst im Innersten, dem folgt das Außen. Oft kann ich dann erkennen, dass sich die Wichtigkeiten in mir verschoben haben und jenes, was mich eventuell einst noch sehr in Rage brachte, nun eine Art der Beteiligung ist, die hinter mir liegt. Andere Situationen, Menschen und Erfahrungen beschĂ€ftigen im Jetzt meine Aufmerksamkeit, treten in den Vordergrund, wĂ€hrend das Losgelassene im Hintergrund verblasst, da mehr und mehr bedeutungslos geworden fĂŒr mich, wen sonst?

Die UmstĂ€nde haben sich geĂ€ndert, und ich gebe mir die Einsicht, dass dies offensichtlich, doch mit mir zusammenhing und auch weiter anhĂ€ngig ist. Im wahrsten Sinne des Wortes und leicht grob auf den Punkt gebracht, umsteht mich im Außen all jenes, was mich innerlich blockiert oder auch freudvoll stimmt. Es ist nur dort, weil ich wĂ€hlte, das Gegebene derart wahrzunehmen, wie ich es tue. Mir ein Urteil ĂŒber das Ganze bildete, ohne mir dessen gewahr zu sein, dass auch ich ein Punkt darin bin.

*

Dass sich die Welt um den Menschen herum, radikal verĂ€ndern kann, wenn dieser selbst in sich bereit ist – fĂŒr eine abweichende Form der Wahrnehmung, dies wurde Karin vom Leben wĂ€hrend einer Reise, die im Jahr 2005 stattfand, außerordentlich beeindruckend offenbart. Die Reise beinhaltete mehrere Aufenthalte und Zielpunkte. Der zweite Halt sah den Besuch eines Freundes von Karins ReisegefĂ€hrten vor. Letztgenannter wiederum, war der Geliebte Karins.

Damals kannten sich die beiden Menschen erst fĂŒnf Monate und konnten kaum den Blick von einander lösen. Nichts trĂŒbte das GlĂŒck, bis auf eine bohrende Eifersucht, die Karin stets dann innerlich heimsuchte, wenn sie sich nicht beachtet fĂŒhlte, da der Geliebte seine ganze Aufmerksamkeit und Freude, vorĂŒbergehend nur auf andere Menschen verteilte. Dann litt Karin fĂŒrchterlich und benahm sich auch ihrem Schmerz entsprechend, dem Schuldigen gegenĂŒber bohrend bis abweisend.

Am spĂ€ten Abend erreichte das Paar das Haus des Freundes. Es war sehr dunkel im Ort, und die Glocke der Uhr im Kirchturm verkĂŒndete die Vollendung der 22. Stunde. Der Eingang zum Haus zeigte sich schwach beleuchtet. Nach zweimaligem Klopfen, öffnete eine Frau dem Paar die TĂŒr. Schon beim Eintritt in das Haus, in dem der Freund des Geliebten von Karin – mit seiner Familie lebte, kam sie sich ĂŒbersehen und unbemerkt vor. Alle Anwesenden waren mit einer derart strahlenden Wiedersehensfreude beschĂ€ftigt, dass es Karin in den Augen beinahe vor Schmerz brannte. Der Geliebte hatte sie nur kurz den Anderen vorgestellt, und ab dann nahm kein Mensch mehr Notiz von ihr.
VerstĂ€ndlicherweise, denn alle hatten sich seit mehr als zwei Jahren nicht mehr gesehen und waren darĂŒber hinaus, durch zahlreiche Geschichten, Erlebnisse und schöne Erinnerungen, offensichtlich herzlichst miteinander verbunden. Eine Welt, an der Karin hĂ€tte teilhaben können, doch da ihr diese Welt eher bedrohlich als erfreulich erschien, verweigerte sie sich innerlich, wĂ€hrend jedoch auf ihrem Gesicht – ein verstĂ€ndnisvolles LĂ€cheln und auch manch zustimmender Blick, abwechselnd die Runde machte. Dieses Doppelspiel hielt Karin etwa zwei Stunden durch, dann konnte sie sich, ohne schlechtes Gewissen, in das GĂ€stezimmer zurĂŒckzuziehen. Dort wartete sie auf den Geliebten, und jede Minute des Wartens ließ Karin wĂŒtender werden.

Als der Geliebte zu frĂŒher Stunde ebenfalls ins Bett fand, war Karin hellwach. Relativ leise, denn im Haus schlief ja alles, begann sie eine fruchtlose Diskussion mit ihm, die im Morgengrauen damit endete, dass Karin ihren Koffer packte und bereit war zu gehen. Der Andere wollte einfach nicht einsehen, dass ihr sein Verhalten Schmerz bereitete. Ja, genauso war es – aus Karins Sicht, und sie trieb das Drama in ganz neue Höhen. Derart resolut – hatte sie noch nie etwas beendet, von dem sie sich nur einen Tag zuvor noch sicher war, dass es genau jenes beinhalten wĂŒrde, was sie sich ein Leben lang gewĂŒnscht hatte. Total der alten Spur treu, verließ sie das Haus. Doch der Geliebte folgte ihr nach, sodass sie auf der Straße weiter diskutierten. MerkwĂŒrdigerweise schienen die Beiden in diesem Moment, allein auf der Welt zu sein. Nirgendwo war noch ein Mensch zu sehen. Alles schlief um sie herum.

Eine weitere halbe Stunde verging, bevor Karin mitsamt dem Koffer wieder bereit war – das Haus erneut zu betreten und in das GĂ€stezimmer hinaufzusteigen. Der Geliebte hatte ihr die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst gemacht, denn wo hĂ€tte Karin auch hingehen können, an einem winzigen Ort, in dem sie keinen Menschen kannte und noch dazu am Sonntagmorgen – um 6:30 Uhr? Im Zimmer wieder angekommen, legten sich beide Menschen einfach ins Bett und schliefen erschöpft ein.

Als Karin gegen 10 Uhr erwachte, dachte sie im Liegen ĂŒber die letzten Geschehnisse nach. Alle Emotionen waren wie weggeblasen, und sie empfand auch keinerlei SchuldgefĂŒhle, ob ihres drastischen Verhaltens in der Nacht und am Morgen danach. Dies, trotzdem Karin sich keinesfalls sanft benommen hatte. Im Grunde war sie einfach nur bereit, sich die Angelegenheit bei Tageslicht noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Denn die beĂ€ngstigende Eifersucht hatte sie ĂŒber viele Stunden fest im Griff gehabt, obwohl aus jetziger Sicht – in keinem Moment dafĂŒr ein ernsthafter Anlass bestanden hatte. Doch erst auf der Straße, als sie die Angst auch in den Augen des Geliebten bemerkte, war Karin aus ihrem selbst inszenierten TheaterstĂŒck aufgeschreckt worden. Keinesfalls wollte sie ihr Leiden verbreiten. Einzig die starre Ansicht, sie lĂ€ge richtig mit all ihren Vermutungen, hatte ihr vorgegaukelt, sie wĂ€re mit ihrem Verhalten im Recht. Dabei war es kindisch, albern, grundlos und total ĂŒbertrieben gewesen, wie sie sich benommen hatte.

WĂ€hrend Karin sich anzog, erwachte der Geliebte und lĂ€chelte ihr zu. Fragte, ob alles wieder gut sei – mit ihr. Sie lĂ€chelte zurĂŒck und nickte, obwohl sie selbst sich diesbezĂŒglich, nun gar nicht mehr sicher war. Deshalb beschloss sie, einen Spaziergang in die nahe gelegenen Weinberge zu machen und dort tief in sich zu gehen. Der Geliebte begrĂŒĂŸte die Idee und sprang mit Freude aus dem Bett, um sie zu umarmen.

Auf dem Weg durch das Haus, begegnete Karin nur der Frau des Hauses, da alle Bewohner im Garten waren und damit beschĂ€ftigt, ein Fest vorzubereiten, welches am frĂŒhen Nachmittag im Ort beginnen sollte. Die Frau lachte sie an und fragte nach, ob Karin gut geschlafen hĂ€tte. Karin nickte und lĂ€chelte zurĂŒck, dann erkundigte sie sich nach dem Weg, der in die Weinberge fĂŒhrte. Die Frau hieß Andrea. Sie gab Karin gern Auskunft und bot ihr ein spĂ€tes FrĂŒhstĂŒck an. Dieses lehnte Karin dankend ab, da sie seit Jahren nicht mehr frĂŒhstĂŒckte und versprach aber, spĂ€ter auf dem Fest vom Speckkuchen zu essen. Andrea war es recht, und sie wĂŒnschte Karin einen schönen Tag.

Als Karin eine Viertelstunde spĂ€ter auf dem Weinberg stand, strahlte ĂŒber ihr der Himmel so blau, wie selten zuvor. Kein Wölkchen war zu sehen. Das Jahr hatte die Mitte des Monats September erreicht, und die Sonne schien an dem Tag angenehm warm. Schließlich fand Karin zwischen den Reihen der Weinstöcke einen schmalen, mit Gras bewachsenen Streifen Erde, auf den sie sich niederlegte und einfach nur in den blauen Himmel sah. Sie dachte nichts, lag nur da, fĂŒhlte die Sonne auf der Haut, das weiche Gras unter sich und war dem Himmel nah. So blieb sie ungefĂ€hr eine Stunde liegen, bevor sie sich gemĂ€chlich wieder auf den RĂŒckweg zum Haus und Hof der Gastgeber begab. Auch wĂ€hrend des Gehens dachte sie ĂŒber nichts nach, ging nur Schritt fĂŒr Schritt zu ihrem Ausgangspunkt zurĂŒck.

Das Fest im Hof des Hauses hatte bereits begonnen. Karin mischte sich unter die Gastgeber und die anderen GĂ€ste. Alle waren freundlich, froh gestimmt und lachten miteinander und auch Karin herzlich zu. Der Schleier, der sich in der Dunkelheit der Nacht vor Karins Augen – am Vorabend ĂŒber die Szene ausgebreitet hatte, war nicht mehr existent. Im Tageslicht und bei Sonnenschein, wirkte jetzt alles ganz anders auf Karin. Nichts war mehr bedrohlich. Jeder war freundlich zum Anderen, auch zu Karin. Es gab nirgendwo Schatten, aus denen sie Geschichten hĂ€tte machen können.
Die DĂ€monen der Eifersucht hatten sich restlos verflĂŒchtigt. Stets dann waren sie in Karin aus Angst emporgestiegen, wenn sie selbst so manches Bild aus ihren vergangenen Erfahrungen – ĂŒber das Jetzt hing. Und dieses Tun stand Karin im Weg. Über Jahre und Jahrzehnte, bis sie ĂŒberraschend realisierte, dass sie selbst es war, die das Hindernis um sich herum erbaute, aus den Erinnerungen und TrĂŒmmern des Vergangenen. Was sie jetzt sah und wahrnahm, dies war die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der Karin gern verweilte.
Da trat plötzlich der Geliebte zu ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Tief sah er ihr in die Augen und sagte mit Bewunderung in seiner Stimme, dass Karins Augen heute derart blau seien, wie noch nie zuvor von ihm bemerkt. Dabei strahlte er ĂŒbers ganze Gesicht. Sie strahlte mit.

Am Dienstag reiste das Paar weiter. Die Verabschiedung der Gastgeber fiel genauso herzlich aus wie das Willkommen. Dieses Mal aber, war auch Karin mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit dabei. Sie sah die Welt nun mit anderen Augen und trug in sich ein Staunen, dass ihr vollkommene drei Jahre zum weiteren Verbleib in der wirklichen Welt verhalf. Jener Welt, in der es – wie Karin nun wusste – keine schmerzhaften UmstĂ€nde gab. UmstĂ€nde, welche lediglich ihr allein wahr erschienen, wenn sie blind und taub fĂŒr die Wirklichkeit, dem Göttlichen ins Wunder pfuschte.

Im Verlauf der nachfolgenden Jahre hatte Karin noch viel zu lernen, oder passender ausgedrĂŒckt – zu verlernen, da ihr das neue Wissen hin und wieder im Alltag abhanden kam. Sie sich zeitweise unbewusst der eigenen Hölle zuwandte, doch niemals wieder so tief in diese hinab stieg, wie es Karin zuvor als normal erschien und eine selbstverstĂ€ndliche Gewohnheit geworden war.

Abweichende Wahrnehmung 6

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