Eva Mozes Kor ist zehn Jahre alt, als ihre Kindheit vorbei ist. 1944 wird sie mit ihrer Familie in das berüchtigte Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Während die Eltern und die beiden älteren Schwestern sofort in die Gaskammern kommen und sterben, geraten Eva und ihre Zwillingsschwester Miriam in die Fänge des Mediziners Josef Mengele. Dieser führt grausame medizinische Experimente durch, vor allem an Kindern, Zwillingen und Kleinwüchsigen.
In den Krankenstuben geschehen unvorstellbare Dinge. Den wehrlosen Opfern werden ohne Betäubung Organe aus ihren Körpern entfernt, Gifte injiziert oder es werden Amputationen durchgeführt. Eva und ihre Schwester sind mittendrin in den bestialischen Erniedrigungen und Experimenten. Ihnen werden Viren und Bakterien gespritzt, um zu sehen, wie ihre jungen Körper darauf reagieren. Eva kämpft um ihr Überleben. Ihre Arme und Beine schwellen an und sie kriecht mehr tot als lebendig auf dem Barackenboden umher. Sie übergibt sich, verliert das Bewusstsein und wird von starken Fieberkrämpfen geschüttelt. Die psychische Belastung ist enorm, denn wenn der Versuchspatient stirbt, wird auch der andere Zwilling sofort mit einer Injektion ins Herz getötet. Die Ärzte konnten so vergleichende Obduktionen an den beiden Leichen durchführen. Eva hat einen starken Überlebenswillen und hält durch. In der Hoffnung, dieses Martyrium irgendwie zu überstehen.
Eva Mozes Kor: „Ich musste immer daran denken: Wenn ich sterbe, wird auch Miriam ermordet“
Am späten Nachmittag, am 27. Januar 1945, taucht plötzlich eine Frau in der Baracke auf und schreit: „Wir sind frei! Wir sind frei! Wir sind frei!“
Als das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit wird, sind Eva und ihre Schwester schwer gekennzeichnet, aber noch am Leben. Sie haben Glück, denn Hunderte von Zwillingen, überwiegend im Alter von acht bis zwölf Jahren, haben die schrecklichen Qualen nicht überlebt. Eva und ihre Schwester kehren in ihr Elternhaus zurück, welches jedoch leer und geplündert ist. Da realisieren sie, dass niemand mehr von ihrer Familie übrig ist. Die Kinder kommen bei Verwandten unter und wandern später nach Israel aus, wo sie eine Familie gründen und irgendwie versuchen, das Erlebte zu vergessen. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach auslöschen.
Eva Mozes Kor: „Irgendwann wird die Wut ein Teil der eigenen Identität“
Eva ist verbittert und wütend auf die Welt, über viele Jahre hinweg fühlt sie sich als Opfer. Als ihre Zwillingsschwester an den Spätfolgen dieser Experimente an Nierenkrebs stirbt, kommen die schrecklichen Erinnerungen wieder hoch. Sie beschließt, Vorträge in Schulklassen zu halten und Studienreisen nach Auschwitz zu organisieren, um die Menschen aufzuklären. Doch die Verbitterung nimmt noch immer einen großen Teil ihrer Seele ein. Bis sie eines Tages auf den letzten lebenden Lagerarzt von Auschwitz trifft, der seine Schuld eingesteht und alles bereut, was er den Menschen angetan hat. Plötzlich beginnt eine innere Wandlung bei Eva. Sie kann ihn nicht mehr hassen und beschließt aus ihrem tiefsten Herzen, ihm öffentlich zu verzeihen. Sie sieht es als Geschenk für ihn an, doch in Wirklichkeit ist es für sie selbst noch viel bedeutender.
Eva Mozes Kor: „Wir wurde bewusst, dass ich die Macht habe. Ich, das kleine Opfer, das seit Jahrzehnten dachte, es hätte gar keine Macht. Ich hatte die Macht zu vergeben“
Mit dieser Geste fühlt Eva eine innere Befreiung. Sie wirft einen gewaltigen Ballast ab und beginnt Schritt für Schritt, ihre Seele von allen Schattenseiten ihrer bewegenden Vergangenheit zu erlösen. Sie verzeiht allen Menschen, die ihr jemals Leid angetan haben. Eva spürt, dass ihr gebrochenes Leben wieder zu einem Ganzen zusammenfindet. Obwohl sie von Holocaust-Überlebenden für diese Vergebung kritisiert wird, folgt Eva mutig ihrem Herzen. Sie fühlt, wie ihre Seele durch diese Liebe regelrecht aufblüht. Durch ihr Verhalten spricht sie die Täter nicht davon frei, für ihr Handeln Verantwortung zu übernehmen. Sie verzeiht den Tätern, weil ihre Seele es verdient hat.
Eva Mozes Kor stirbt am 04. Juli 2019 im Alter von 85 Jahren. Ihre berührende Lebensgeschichte gibt vielen Menschen Mut, wie man selbst das härteste Schicksal meistern kann. Sie hat es geschafft, den Verantwortlichen zu verzeihen, die ihre Familie getötet haben. Eva Mozes Kor hat ihr Überleben in den Dienst der Aufklärung und der Nächstenliebe gestellt. Denn jede Vergebung hat sie einen Schritt näher zu Liebe, Frieden und Harmonie gebracht. Wer ihr in ihren letzten Jahren begegnen durfte, spürte sofort, wie glücklich sie mit diesem Leben war.
In Erinnerung bleiben kraftvolle Wortmeldungen einer starken Frau:
„Opfer fokussieren sich auf ihre Schicksalsschläge und sagen, sie können nichts dagegen tun. Aber das ist falsch. Die Vorstellung des Opfers, keine Macht über sein Leben zu haben, ist das Fundament dafür, ein Opfer zu bleiben“
„Hass und Wut schaden einem selbst am meisten. Durch Vergebung kann man sich davon lösen“
„Ich hatte die Kraft, allen zu vergeben, die mir etwas angetan hatten“
„Wir versuchen den Opfern zu sagen, durch Vergeben erhaltet ihr die Möglichkeit, euch selbst zu heilen. So erreicht ihr die Möglichkeit, Frieden zu erhalten, statt Rache zu üben“
„Ich habe den Tätern verziehen, nicht weil sie es verdienen, sondern weil ich es verdiene. Ein Opfer habe das Recht, irgendwann frei zu sein, und man könne nicht frei sein von dem, was einem angetan wurde, wenn man diese tägliche Last aus Schmerz und Wut nicht abschüttelt“
„Das Konzept der Vergebung hat nichts mit den Tätern zu tun. Es dreht sich ausschließlich um das Bedürfnis der Opfer, frei zu sein von dem Schmerz, der über sie gebracht wurde“
„Wie so viel Leid und Schrecken nicht mehr passieren können? Schenken Sie Ihren Kindern Liebe und lassen Sie sie glücklich aufwachsen, das sehe ich als das Wichtigste an“
Das Buch: Eva Mozes Kor – Die Macht des Vergebens
Einzelnachweise (abgerufen am 05.07.2019):
1. www.deutschlandfunkkultur.de – „Ich habe keine Albträume mehr““
2. www.erzdioezese-wien.at – Auschwitzüberlebende: „Ich habe den Tätern vergeben“
3. www.faz.net – „Ich bin nicht mehr passives Opfer“
4. www.sueddeutsche.de – „Fragen Sie mich nach Auschwitz“
5. wikipedia.org – Eva Mozes Kor
Antworten