Von unzähligen wissenschaftlichen Publikationen zur Alzheimer-Demenz weist nur ein Bruchteil darauf hin, dass Ärzte zu einem gewissen Grad selbst zu deren Entstehung beitragen.*
Im Kontext demenzieller Syndrome bei älteren Menschen sind chronische kognitive Beeinträchtigungen aufgrund von Medikamententoxizität von besonderer Bedeutung und eine große Herausforderung. Dieses Problem ist ein Nebenprodukt des steigenden Einsatzes von Medikamenten während der letzten Jahrzehnte (…). Ältere Menschen haben die größte Krankheitsbelastung, verbrauchen die meisten Medikamente, sind anfälliger für Nebenwirkungen und stellen das am schnellsten wachsende Segment der industrialisierten Welt dar (…).“ (1) Der Geriater Eric B. Larson und Koautoren wiesen bereits 1987 auf den Zusammenhang zwischen dem Umgang mit Arzneimitteln und dem Entstehen demenzieller Syndrome beziehungsweise einer Alzheimerkrankheit hin. Der Ansatz findet allerdings nach wie vor zu wenig Beachtung.
Tatsache ist, dass sich der Medikamentenkonsum im Laufe des Lebens eines Durchschnittsdeutschen bis zu seinem 80. Lebensjahr exponentiell steigert (2). Mit fortgeschrittenem Alter entsteht so häufig ein Dilemma zwischen Multimorbidität und Vulnerabilität: je älter ein Patient ist, desto mehr Medikamente nimmt er durchschnittlich ein und desto sensibler reagiert er auf diese Medikamente.
Demenz als unerwünschte Arzneimittelwirkung
Diese Problematik macht es für Betroffene und deren Umfeld immer schwieriger, demenzielle Zustände als eventuelle unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erkennen. Faktoren wie Überforderung oder Zeitmangel mögen dazu beitragen, dass Angehörige, Pflegekräfte und auch Ärzte den fließenden Übergang von der medikamentösen Erzeugung eines Delirs (also: akuten Verwirrtheitszuständen) zur Demenz teilweise stillschweigend, meist aber unwissend hinnehmen. Die in der klinischen Praxis oft schwierige und schwerwiegende Unterscheidung zwischen dem vorübergehenden Delir und der chronischen Demenz ist heikel. Einige Veröffentlichungen legen die Vermutung nahe, dass chronische Delirzustände bei älteren Menschen nicht selten als Demenz verkannt werden, obwohl sie vom täglichen Tablettenkonsum herrühren. Der Neurologe Oliver Sacks beschrieb 2007 im wissenschaftlichen Magazin „Neurology“ den Fall eines vermeintlichen Alzheimerpatienten und dessen rheumabedingte Einnahme des Steroids Prednison: „Diese solide Leistung in allen kognitiven Bereichen ─ fünf Jahre, nachdem bei ihm die Alzheimerkrankheit diagnostiziert wurde ─ ist unvereinbar mit einer solchen Diagnose und scheint unseren Eindruck zu bestätigen, dass seine monatelange Demenz im Jahr 2001 ausschließlich eine Folge der Steroideinnahme war.“ (3)
In einer Falldatenbank für Ärzte aus dem Jahr 2008 ist zum Antibiotikum Moxifloxacin und dessen möglichen Nebenwirkungen Folgendes zu lesen: „Eine 82-jährige Patientin nahm Moxifloxacin (400 mg/d) aufgrund eines fieberhaften bronchopulmonalen Infekts eine Woche lang ein. Während dieser Behandlung traten Verwirrtheit und Demenz auf, die auch nach dem Absetzen mindestens zwei Monate lang anhielten. Ein demenzielles Syndrom kann mit der Einnahme von Fluorochinolonen assoziiert sein.“ (4)
1999 ging eine Studie von Moore und Kollegen, die sich mit Arzneimittelnebenwirkungen, Delir und Demenz auseinandersetzte, im Speziellen auf die problematische anticholinerge Wirkung ein, die viele gebräuchliche Medikamente haben, und verwies implizit auf den schmalen Grat zwischen Delir und Demenz: „Fast jedes Medikament kann ein Delir auslösen, vor allem bei vulnerablen Patienten. Beeinträchtigte cholinerge Neurotransmission spielt bei der Krankheitsentstehung von Delir und der Alzheimerkrankheit eine Rolle. Anticholinerge Medikamente stellen eine wichtige Ursache von akuten und chronischen Verwirrtheitszuständen dar. Dennoch ist die gleichzeitige Verwendung mehrerer anticholinerger Bestandteile gängig.“ (5)
Ist die Diagnose „Alzheimer“ bei Menschen jenseits des erwerbsfähigen Alters erst einmal gestellt, wird es häufig schwierig, aus diesem bereits zum gesellschaftlichen wie medizinischen Stigma gewordenen Kreislauf auszubrechen. Zumal meistens weder Pflegekräfte noch Angehörige noch die Betroffenen selbst einen Überblick über Menge und Art der eingenommenen Medikamente haben; und auch Ärzte oder Pharmakologen können oft nicht sagen, welche Wechselwirkungen bei der Einnahme von mehreren Arzneimitteln im Einzelfall zu erwarten sind. Geriatrische Stationen setzen bei Neueinweisungen meist zuerst so viele Medikamente wie möglich ab. Doch von vielen Krankenhaus-, Fach- und Hausärzten sowie von Patienten wird nicht zwischen der Ausgangsindikation (zum Beispiel Schmerz, Depression, Schlaflosigkeit) und möglichen Nebenwirkungen abgewogen. Mögliche Risiken einer Arzneimitteltherapie wie Abhängigkeit oder Delir werden oft nur marginal in Betracht gezogen. Zumal die Indikation aufgrund der heutzutage allgegenwärtigen Zeitknappheit eher der Oberfläche, also dem „Symptom“ entspricht und weniger den tiefer liegenden (strukturellen) Ursachen. Dazu kommen die Verflechtungen zwischen der modernen Medizin und der Pharmaindustrie. Heutzutage gehören von Unternehmen beeinflusste Medikamentenstudien, Zulassungsverfahren oder Leitlinien zum Alltag. Im Deutschen Ärzteblatt vom April 2010 ist beispielsweise zu lesen: „In Untersuchungen mit Finanzierung durch Pharmafirmen traten statistisch signifikante Unterschiede in der Häufigkeit von UAW im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant seltener auf und die Autoren der Publikation dieser Ergebnisse (…) beurteilten das Arzneimittel häufiger als sicher als in anders finanzierten Studien (…).“ (6)
Daten und Ergebnisse werden oft zunächst für Pharmawerbezwecke und erst danach für die Forschung genutzt (7); wenn sie überhaupt bei externen Wissenschaftlern ankommen (8). Wissenschaftliche Neutralität ist eher die Ausnahme, wenn Aussichten auf ökonomische Rentabilität bestehen. Und diese ergibt sich vor allem dann, wenn besondere Nachfrage erzeugt werden kann. Womit man wieder bei der Alzheimerkrankheit ist.
Prognosen zufolge nimmt die Prävalenz des Morbus Alzheimer als häufigster Demenzform in Deutschland rapide zu und wird, allein aufgrund der steigenden Zahl alter Menschen zu einer der wohl kostspieligsten Volkskrankheiten werden. Sie gehört nicht nur unter Senioren zu den gefürchtetsten Syndromen, während ihre Einordnung und Ursachen so schwammig sind wie die kaum einer anderen Krankheit (9).
Menschen ab dem 65. Lebensjahr werden aufgrund ihrer „unregelmäßigen“ Reaktionen auf Medikamente häufig von klinischen Studien ausgeschlossen. Dabei sind gerade sie diejenigen, die die Medikamente einnehmen (2). Ärzte, Pharmazeuten und Pflegekräfte wissen, dass Menschen in fortgeschrittenem Alter aufgrund von zum Beispiel verändertem (Hirn-)Stoffwechsel und schwächeren Organleistungen anfälliger für Nebenwirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten sind als jüngere. Fraglich ist hier, inwieweit die gängige Unterscheidung zwischen Intoxikation (Vergiftung durch Überdosierung) und Nebenwirkung bei älteren Menschen noch angebracht ist. Denn häufig treten bei diesen auch unter „normaler“ Dosierung paradoxe Arzneimittelwirkungen auf, wie zum Beispiel Verwirrung, Ängstlichkeit und Depression bei der Anwendung von Tranquilizern oder Aufregung und Unruhe bei der Einnahme von Schlafmitteln (10). Vor allem die gleichzeitige Verwendung mehrerer Mittel ist problematisch. Und doch wird durch anerkannte Spezialisten der Geriatrie weiterhin Schmerzlinderung um jeden Preis, auch den der Polypharmazie, beworben. In manchen Fällen sicher zu Recht (11).
Doch mehr als die Hälfte der über 70-Jährigen nimmt regelmäßig fünf und mehr Medikamente ein. Nicht selten werden mehr Mittel eingenommen als es nachvollziehbare Diagnosen gibt, weil Ärzte Nebenwirkungen von Arzneimitteln als eigenes Problem einschätzen und wiederum medikamentös therapieren, oder weil Patienten zusätzlich Selbstmedikation betreiben. Anhand der Beers-Liste wurde in der Berliner Altersstudie bei 13,7 Prozent der Gruppe der über 70-Jährigen eine unnötige Übermedikation, bei 18,7 Prozent eine inadäquate Medikation nachgewiesen (12, 13). Nebenwirkungen sollen bei älteren Menschen siebenmal häufiger auftreten als bei jungen (14–16, 10). Eine Studie verweist auf den deutlichen Zusammenhang zwischen der Menge der Medikamente und der Häufigkeit und Stärke von „unerwünschten Arzneimittelwirkungen“ bei über 60-Jährigen: zwei bis drei Medikamente erhöhten die Wahrscheinlichkeit von teilweise fatalen Nebenwirkungen um den Faktor 2,7; vier bis fünf Medikamente um den Faktor 9,3 und sechs und mehr Medikamente um den Faktor 13,7 (1). Andere Studien deuten auf den unmittelbaren Zusammenhang von Demenz und Polypharmazie hin: Je mehr Medikamente eingenommen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenz(-Diagnose) (17).
In vielen Studien werden Demenz und Delir als verwandte und verwobene Phänomene kognitiver Beeinträchtigung („cognitive impairment“) behandelt. Einige medizinische Aufsätze weisen explizit darauf hin, dass demenzielles Verhalten (inklusive Vergesslichkeit, Unruhe oder Aggressivität) häufig einem dahinter stehenden Delir geschuldet sein mag, welches durch Medikamente möglicherweise erst erzeugt oder vertieft und chronisch wird (5, 18). Ein Anhaltspunkt könnte hier die Altersverteilung von „Amnesie“ und „Demenz“ sein: im Alter zwischen 50 und 70 Jahren beginnt der durchschnittliche Medikamentenkonsum eines Deutschen rapide zu steigen und regelmäßiger zu werden (2). Delirpatienten in diesem Alter leiden vornehmlich an einer „transienten globalen Amnesie“ (TGA) – auch diese Störung ist physiologisch nicht wirklich geklärt. Ab dem 70. Lebensjahr wird, was Delirzustände betrifft, die (vorübergehende) TGA als Diagnose fast vollständig von der (chronischen) Demenz verdrängt (19).
Depression, Unruhezustände und Schlafstörungen werden immer wieder der Demenz zugeordnet (20). So wird oft nicht erkannt, in welchem Maß die medikamentöse Behandlung dieser Symptome indirekter Auslöser der Alzheimerkrankheit beziehungsweise eines chronischen Deliriums ist. Einer US-Studie aus dem Jahr 2007 zufolge, nehmen zwölf Prozent der älteren Menschen Antidepressiva ein, 28 Prozent Antipsychotika und 33 Prozent Anxiolytika oder Hypnotika; unabhängig von der Wohn- und Lebenssituation (21). In diesem Kontext dürfte es keine Ausnahme sein, dass sogenannte „Verschreibungskaskaden“ entstehen: also die Behandlung von Arzneinebenwirkungen als eigene Krankheit (13).
So hängen vermutlich nicht wenige Fälle der Lewy-Body-Demenz, die zu Lebzeiten nur auf Verdacht vom Morbus Parkinson differenzierbar ist und auch als dessen „Sekundärkrankheit“ gilt, eng mit den sich in Deutschland häufenden Verschreibungen des Wirkstoffes Levodopa zusammen (22). Dieser ist als Parkinsonmittel zugelassen, in dieser Sparte marktführend und wird bei fünf (5, 23) bis 30 (24) Prozent der Anwender auch bei „normaler“ Dosierung mit möglichen Delirwirkungen assoziiert. In dem Fachbuch „Arzneitherapie für Ältere“ wird darauf hingewiesen, dass ein Delir, welches bei Dementen durch Levodopa erzeugt wird, zu den „typischen Pharmakon-Krankheiten-Interaktionen des Alters“ gehört (25).
Wo könnte die Suche nach Lösungen für dieses Problem ansetzen? Positiv- und Negativlisten wie die in Deutschland publizierten FORTA (26) oder PRISCUS (27) – das oben erwähnte amerikanische Äquivalent der Beers-Liste (28) machte bereits 1991 den Anfang – scheinen hier keine echte Besserung zu versprechen. Zum einen, weil diese Listen der bedenklichen Medikamente in der Praxis häufig kaum eine Rolle spielen; zum anderen, weil sie innerhalb des wissenschaftlichen Demenzdiskurses die scheinbare Alternativlosigkeit medikamentöser Behandlungen verfestigen. Verbunden mit der grundsätzlichen Frage des immer bedeutender werdenden Umgangs mit dem Alter in unserer Gesellschaft, sollte der Medikamentenkonsum von jedem Einzelnen, ob Patient, Arzt oder Familienmitglied, grundsätzlich überdacht werden. Ältere Menschen sind nicht nur vulnerabel im pharmakologischen Sinne. Sie sind oft auch im sozialen Sinne schutzlos gegenüber einer teilweise bedenklichen Invasivität der medizinischen Behandlung.
Hans Vogt, M.A.
Soziologe und Doktorand an der
Justus-Liebig-Universität Gießen
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit1217
oder über QR-Code.
https://www.aerzteblatt.de/archiv/187259/Arzneimittel-Demenz-als-Folge-der-Therapie
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