Wie gerne möchte der Mensch doch immer etwas Besonderes leisten, geben, schaffen, etwas darstellen, sich hervortun aus dem grauen Meer der Massen. Seien wir ganz ehrlich mit uns selbst. Wir bemühen uns von Kindesbeinen an, mit außergewöhnlichen Leistungen oder Eigenschaften zu brillieren, je nachdem, welche davon in unserem Elternhaus Bestätigung erfahren haben. Wir kultivieren unsere Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Originalität, Robustheit, unser Rebellentum, unseren Edelmut oder einfach nur unsere Bravheit und Angepasstheit – und glauben uns damit unseren Platz auf Erden, unsere Daseinsberechtigung zu sichern oder irgendwie erkaufen zu können. Bewusst ist das den wenigsten von uns. Dennoch ist kein Mensch davor gefeit, auch die Schreiberin dieser Zeilen nicht. Meist sind wir bemüht, unterschiedliche Lebensrollen parallel möglichst gut auszufüllen und zu bedienen. Manchmal lechzen wir unser Leben lang nach einer ganz bestimmten Rolle, deren vollständige Inbesitznahme und Verkörperung uns die höchste Erfüllung zu versprechen scheint.
Doch du kannst dich noch so viel abstrampeln im Hamsterrad deiner Verpflichtungen, noch so exzellente Leistungen im Job erbringen, dir noch so exotische Hobbies zulegen, noch so oft die Welt retten, die verführerischste Geliebte, der ausdauerndste Sportler, der originellste Künstler, die belastbarste Assistentin und der abonnentenstärkste Blogger sein – du wirst dich nie restlos befriedigt fühlen und dich vor allem nie wirklich dauerhaft entspannen, wenn das alles nur einem einzigen Ziel dient – die Leere, die Angst und den Urschmerz nicht zu spüren, die du da tief in dir trägst. Denn diese sind deine alten Vertrauten, ob du es willst oder nicht.
Jeder Schmerz von Verlassenheit, Verlust und Scheitern ist intensiv und erinnert dich in seiner Unerträglichkeit immer an die Abgetrenntheit, Hilflosigkeit und Kleinheit, die du vor langer Zeit erlitten und in Wirklichkeit niemals überwunden hast. Weil es niemanden gegeben hat, der wusste, wie das geht, wie man diesen Schmerz heilt und es dir vorleben konnte.
Und so tust du alles, um das Gefühl von Leere zu vermeiden, in welche dieser Schmerz mündet, und um ihre Bitterkeit nicht zu schmecken. Du tust alles, um dazuzugehören, bejaht, belohnt, bestätigt, wertgeschätzt, gesehen zu werden. Endlich gesehen zu werden! Du gibst alles, ein Leben lang, um dir deinen Platz in der Familie, Gesellschaft, Arbeitswelt, ja in deinem Leben zu verdienen und deine Rollen perfekt zu erfüllen, die das Gerüst deines Lebens tragen und dich zu dem machen, was du zu sein glaubst. Weil du die Masken, die du tagtäglich überziehst und trägst, mittlerweile für dein tatsächliches Gesicht hältst, das dir jeden Tag im Spiegel entgegensieht. Oder doch nicht?
Du brauchst deine Masken, Rollen und Identitäten sowie ihre Bestätigung wie die Luft zum Atmen. Du brauchst sie, um eines zu vermeiden: das Gefühl, Nichts zu sein. Nicht existent, nicht gewollt, einfach nicht da. In deinen dunkelsten Stunden hast du dieses Nichts vor deiner Tür herumlungern gefühlt, an ihr kratzen gehört und sie darum ängstlich gegen sein Eindringen verrammelt. Denn was bleibt von dir, wenn alles geht?
Vielleicht hat sich schon einmal diese imaginäre knarzende Tür vor deinem inneren Auge aufgetan und deinen Blick auf eine bestimmte Frage wie in einen dunklen Raum gelenkt: Was geschieht, wenn alles wegbricht? Was ist noch von dir übrig, wenn du völlig allein zurückbleibst, deinen Beruf und deine Hobbies nicht mehr ausüben kannst, deine Gesundheit verlierst und deine materiellen Besitztümer und Errungenschaften sich in Nichts auflösen? Wenn alle Menschen gehen, die du liebst? Wer oder was bist du dann noch?
Leere. Leere einer sehr besonderen Qualität. Sie ist es wert, sich ihr zu öffnen und sie zu erfahren.
Denn diese Leere ist eine einzigartige Gelegenheit. Du kannst diese Leere durchschreiten wie ein Tor, ohne mittendrin umzudrehen, ohne Widerstand zu leisten gegen den Schmerz und die Angst, ohne zurückzuscheuen vor den dunklen Schemen, die dir dort begegnen. Ja, du kannst! Selbst ohne dich zu betäuben, ohne dich an irgendjemand oder irgendetwas anzuklammern, und sei es nur die nächste Tafel Schokolade, die nächste Beförderung, der neue Partner oder der nächste Orgasmus.
Irgendwann beginnst du vielleicht, dich der Leere und ihrer Bitterkeit nicht mehr zu verweigern. Was für eine Gelegenheit! Von Mal zu Mal überlässt du dich mehr der Angst, die das Ausgeliefertsein an diese Leere in dir auslöst. Dann erlebst du irgendwann, wie in dieser Hingabe allmählich all deine Rollen, Masken und Identitäten ebenso in sich zusammenfallen wie deine Angst, deine unsägliche Angst davor, Nichts zu sein. Weil du nämlich spürst, dass du tatsächlich Nichts von all dem bist. Weil da Nichts mehr ist hinter den verpuffenden Rauchschwaden, die von den glimmenden Überresten deiner Persönlichkeit aufsteigen. Und das soll nicht Angst machen, fragst du?
Nein, tut es nicht.
Du spürst das für die Dauer eines Wimpernschlags, vielleicht ein wenig länger – dann kehrst du wieder zurück. Glaube niemandem, der behauptet, diesen Ort erreicht zu haben und dort geblieben zu sein. Kein lebender Mensch ist dorthin gelangt, ohne wieder zurückzukehren, und das ist gut so. Oh nein, glaube nicht, du könntest an diesem Ort länger verweilen als notwendig, um einen kurzen Blick hinter den Schleier zu werfen und zu erkennen, dass du nicht die Masken bist, die du trägst. Dass du nicht die Wolken am Himmel bist, sondern der Himmel selbst. Dass du nicht die Kulisse bist, nicht der Schauspieler und der Statist, sondern die Bühne selbst.
Du kehrst also wieder und schlüpfst dabei zurück in all deine traumbunten Masken, Rollen und Identitäten, die dir so dienlich sind, das Spiel weiterzuspielen, um dessentwillen du schließlich hierhergekommen bist.
Und so wirst du letztlich auch den Schmerz und die Angst wieder spüren, wieder und wieder, und dich getrennt, hilflos und einsam fühlen. Dies gehört zur Erfahrung des Menschseins und ist gut so. Du wirst dich wieder einlassen auf diese Erinnerungen an deinen Urschmerz, wieder und wieder. Irgendwann werden sie dich nicht mehr beherrschen, sondern tragen. Du wirst sie dein Bewusstsein fluten und dich auf ihnen über die Schwelle in die Leere hineintragen lassen, die in deinem Innersten ruht und die dich an das erinnert, was du wirklich bist.
Die Leere, deine alte Vertraute und einzigartige Gelegenheit.
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