Geliebter Mangel, wir lernten uns bereits während meiner Geburt kennen. Als ich geboren wurde, standest du am Fußende des Bettes mit offenen Armen bereit, um mich im Leben zu begrüßen. So wurde ich direkt aus dem Leib meiner Mama in deine Arme gelegt. Ein Lächeln umspielte deine Lippen. Du meintest es von Herzen gut, denn meine Mama schlief noch, erschöpft von den Umständen der Geburt. Bereits einige Stunden zuvor, spürte ich, dass du anwesend warst, denn ich bekam kaum noch Luft und das Wasser um mich herum verlor den Geschmack des Lebens. So war es an der Zeit hinauszukommen, und es war tröstlich, dass du sogleich dort warst, um mich zu begrüßen. Dadurch fühlte ich mich nicht mehr so einsam in der Kälte des Lebens.
Du wiegtest mich liebevoll in deinen Armen, doch mein kleiner Leib schmerzte vor Hunger und Durst. Mir war kalt, es war hell und laut und so schrie ich den Kummer des Abschieds heraus. Hinausgefallen aus dem Paradies – hineingeboren in eine diffuse Angst zu sterben. Es war die Vertreibung aus der Höhle der Geborgenheit. So war unsere erste Begegnung.
Jede Zelle meines Körpers verschmolz mit dir. Nun wichest du nicht mehr von meiner Seite und erinnertest mich stetig daran, wie es ist, nicht genug zu haben oder zu sein. Es lag nicht in deinem Wesen, zu erkennen, dass es mich am Leben hinderte.
So wuchsen wir gemeinsam auf. Die Tage vergingen und wir spielten häufig das Spiel, „Was hab ich nicht, was du hast.“ Oft ließest du mich gewinnen, so dass der Mangel in mir sich von Tag zu Tag vermehrte.
Es gelang mir nicht satt zu werden oder genug zu bekommen. Immer fehlte es an etwas und ich spürte es in jeder Faser meines Körpers. Später, als ich größer wurde, wurde das Gefühl etwas subtiler, so dass ich es nicht gleich erkennen konnte.
Du hattest im Laufe der Zeit gut gelernt, dich zu tarnen, so dass du sicher warst in meinem Heim. Deine besondere Gabe bestand darin, dass du deine Größe und Gestalt verändern konntest. Hier und da sandtest du sanfte Impulse der Leere an mein Hirn, welches begierig empfing, um sie weiterzuleiten.
Manchmal spürte ich dann Hunger oder Durst, Müdigkeit oder Leere, Ängstlichkeit oder Einsamkeit, Trauer oder Schmerz. Du warst sehr raffiniert und vielseitig im Ausdruck deiner Kreativität. Es war selbstverständlich, dass du an meiner Seite warst. Ein Leben ohne dich war undenkbar.
Eines Tages, als wir „Mensch, was fehlt mir noch“ spielten und ich wieder einmal zu verlieren schien, hörte ich durch das offene Fenster eine klare, freundliche Stimme, die ein Liedchen sang. Erst ignorierte ich sie und machte mir weis, sie nicht gehört zu haben. Der Gesang blieb, so dass ich irgendwann aufstand und zum Fenster hinaussah. Sofort warst du an meiner Seite, um hinunter zu schauen. Was du sahst, gefiel dir offenbar nicht, denn du begannst zu zittern und verlorst an Farbe.
In diesem Moment, als ich hinuntersah, vergaß ich dich für einen Moment. Ich sah ein zartes, weibliches Wesen mit einem kanariengelben Kleid unter dem Fenster stehen. Ein Petticoat machte das Kleid zu einem bauschig weiten Wunderwerk und es erstrahlte satt und warm. „Wie die Sonne“, dachte ich kurz. In meiner Aufregung rief ich hinunter: „Wer bist denn du? Und was machst du hier?“
Sie blickte zu mir herauf und alles, was sie sagte, kam als Melodie aus ihr heraus. So sang sie sich direkt in mein Herz, auch wenn ich kein einziges Wort vernahm. Ich fühlte ihre Töne in meiner Brust. Jede Zelle meines Körpers dehnte sich aus und entfaltete sich. In mir erklang ihre Antwort: „Ich bin die Fülle und es wird Zeit, dass du mich hineinlässt“.
Erschrocken blickte ich zu dir. Du sahst verloren aus. Ich nahm dich auf den Arm und wiegte dich. Du rauntest mir zu: „Vergiss mich bitte nicht“. Das Herz wurde mir schwer, denn ich erkannte, dass es um einen Abschied ging. So sagte ich dem Mangel: „Lieber Mangel, du warst von Anbeginn an in meinem Leben und ich bin sehr dankbar für deine Verlässlichkeit. Nun spüre ich, dass ich bereit bin, etwas Neues zu wagen. Die Fülle möchte Einzug in mein Leben halten. Ich bin bereit, sie hineinzulassen. Doch ich möchte, dass du weißt, dass du immer ein Teil meines Lebens sein wirst und dass du einen Platz in meinem Herzen füllst. Ich sehe dich und ich liebe dich. Wenn du magst, dann lerne auch du die Fülle kennen und entscheide dann, wie es weitergeht.“
Erleichtert schautest du zu mir auf und nicktest mir zu. Du antwortetest: „Es ist gut. Lade sie ein, die Fülle. Ich bin sehr müde und möchte gerne eine Pause machen. Wenn du Abwechslung brauchst, weißt du, wo du mich finden kannst. Dann werden wir eines unserer Spiele spielen und du wirst dich jedes Mal entscheiden können, was du gerade leben möchtest: Mangel oder Fülle.“
Kaum hattest du das gesagt, rolltest du dich in meiner Hand zum Schlafen ein. Behutsam legte ich dich in eine kleine, glitzernde Schachtel auf dem Regal. Hier hattest du einen sicheren Platz. Dann schaute ich zum Fenster hinaus und rief der Fülle zu: „Hinein mit dir. Ich freue mich sehr darauf dich, näher kennen zu lernen.“ Sie jubelte und sprang sogleich in mein Herz hinein.
Wenn ich sehr still werde, kann ich sie in meinem Inneren singen hören.
© Alexandra Thoese aus dem Buch: Von Abenteuerreisen und gefühlvollen Gefährten Verlag tredition
Erschienen am 10. März 2021 ISBN: 978-3-347-22895-5 Paperback | 978-3-347-22896-2 Hardcover