22. Dezember 2022von Prof. Dr. Michael Schneider 12,4 Minuten Lesezeit
Es war einmal ein kleiner namenloser Teufel, der bei einer großen Investmentbank angestellt war…
Wenn ich „Teufel“ sage, meine ich natürlich nicht den alten, mit Spieß und Dreizack bewehrten Teufel des Mittelalters, der Feuer spukte und fürchterlich nach Schwefel stank. Unsere modernen Teufel sind äußerst zivilisiert, sie tragen keine Hörner mehr, sondern gegelte Igelfrisuren, wenn sie nicht glatzköpfig sind, sie gehen in Leder oder Nadelstreifen, bevorzugen randlose Brillen und wohlriechende Deodorants. Im Gegensatz zu ihren ungehobelten Vorgängern sind sie im Umgang mit ihren Kunden äußerst höflich und zuvorkommend. Auch benutzen sie viel effizientere Waffen als Spieß und Dreizack: nämlich elegante kleine, flache Hartplastikboxen, die sie „Laptop“ nennen und vermittels derer sie unfassbar große Geldströme in Nanosekunden um den Erdball schicken können.
Ihre eigentliche Passion – darin sind sie ihren gehörnten Vorgängern treu geblieben – ist noch immer das Gold, das liebe Geld – und wie man es am schnellsten vermehren kann! Der Köder, mit dem sie die Seelen fangen, auch die Seelen der frömmsten Christenmenschen, prangt in goldenen Lettern auf allen Plakatsäulen, auf allen Werbeprospekten und Internetportalen: „Lasst euer Geld arbeiten!“ (Als ob Geld arbeiten könnte!) Und so haben sich Habsucht und Gier, wie in früheren Zeiten die Pest, über den ganzen Globus verbreitet und selbst diejenigen Menschen und Völker angesteckt, die bislang ein genügsames und geruhsames Leben führten.
Schlechte Zeiten für die Engel, die früher noch in einem fairen Wettstreit mit den Teufeln um die Seele der Menschen gerungen haben! Zwar locken ihre perfekt gestylten Abziehbilder – Models und junge Frauen von engelhafter Schönheit – in allen Schaufenstern, auf allen Bildschirmen, von allen Leinwänden; aber diese Engel-Attrappen sind auch nur Geschöpfe des Geldes – und damit des Teufels. Die echten Engel dagegen, die sich noch auf das Glück und die Liebe verstanden, haben sich längst zurückgezogen oder wurden vertrieben, sie erscheinen den Menschen nicht mehr – oder nur noch gelegentlich im Traum.
Und doch spüren manche Bewohner dieser komfortablen Hölle, in der für Geld alles zu haben ist, dass ihnen etwas Elementares fehlt, etwas, das nicht in den Hochglanz-Broschüren und Lifestyle-Magazinen zu finden ist, das man auch nicht im Supermarkt kaufen oder bei Ebay ersteigern kann. Nur haben sie kein Wort mehr für diese namenlose Sehnsucht, von der sie in einsamen Stunden wie von einem plötzlichen Fieber ergriffen werden…
Und damit sind wir wieder bei dem kleinen Teufel, von dem unsere Geschichte handelt. Den ganzen Tag saß er vor seinem Laptop und seinen flimmernden Monitoren, verfolgte die neusten Börsenkurse und war damit beschäftigt, das Portefeuille seiner Anleger zu verwalten und ihr Geld zu vermehren oder obskure Wertpapiere und faule Kreditbriefe an ahnungslose Kunden zu verhökern. Er lebte nicht schlecht von diesen kleinen Teufeleien, die nun mal zu seinem Job gehörten. Er fuhr einen schnittigen Sportwagen und logierte in einer Penthouse-Wohnung in bester Lage. Doch wenn er nach der Arbeit ins Fitnessstudio oder ins Clubhaus ging, waren es immer dieselben Gespräche, die er mit seinen Kameraden und Kollegen führte: Wie und wo man sein Geld am besten anlegen sollte, welche Luxusartikel man sich noch gönnen, welche Hits und Events gerade angesagt waren, in welchem Ferienparadies man den nächsten Urlaub verbringen sollte, etc., pp.
Diese Gespräche ödeten den kleinen Teufel immer mehr an. Zwar verdiente er mehr als genug und hatte obendrein noch ein hübsches Sümmchen auf einem Schweizer Nummernkonto geparkt, am Fiskus vorbei, versteht sich, aber auf eine dumpfe Weise litt er unter der Leere seines so komfortablen Daseins, fühlte er, dass sein Herz allmählich verhungerte. Er begann, das Clubhaus zu meiden und verbrachte die Abende lieber allein in seiner Wohnung. Sein bester Freund war noch immer sein geliebter PC, er war nämlich ein echter Computerfreak und ein begnadeter Hacker dazu. Und doch nagte, während er durchs world wide web surfte oder aus schierer Langeweile mal den Sicherheits- und Zugangscode seiner Bank, mal den der Stadtwerke zu knacken suchte, diese namenlose Sehnsucht an seinem Herzen …
Eines Morgens, als die Reihe an ihm war, den täglichen Kundenservice am Schalter zu versehen, stand plötzlich eine junge Frau vor seinem Kontor, deren Anblick ihn augenblicklich verzauberte. Die blonden Haare mit den Korkenzieher- Löckchen fielen ihr in Wellen über die Schultern, die von einer blauen Mantille bedeckt waren. Sie war völlig ungeschminkt, aber die verheißungsvolle Art, wie sie ihn anblickte mit ihren glänzenden braunen Augen, das feine, fast unmerkliche Lächeln, das ihren Mund umspielte – der kleine Teufel wusste nicht, wie ihm geschah!
„Ich möchte ein Sparbuch eröffnen“, sagte sie.
„Ein Sparbuch? …Ach so, ja , natürlich!“, stammelte der kleine Teufel und senkte verlegen die Augen. Nachdem er seine Fassung halbwegs wieder gewonnen, suchte er ihr mit Kompetenz und Charme, wie er es gewohnt war, das altmodische Konzept des Sparens auszureden, ein Sparbuch bringe höchstens 2 Prozent Zinsen, nicht mehr, er könne ihr aber sehr viel profitablere Anlagemöglichkeiten bieten, Aktien, Immobilienfonds, Zertifikate oder Optionsscheine, bei denen sie mindestens 15 bis 25 Prozent, wenn nicht noch mehr verdiene. Wie viel sie denn anlegen wolle?
„2000 Euro!“
Wenn Sie einen Kredit von 8000 Euro aufnehme, legte er ihr im Tone geschäftsmäßiger Euphorie dar, könne sie für 10.000 Euro – denn das sei die Mindesteinlage – das Zertifikat eines amerikanischen Bankhauses erwerben, bei dem sie nach fünf Jahren sogar mehr als das Doppelte …
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Ich lebe nicht auf Pump. Ich will mein Geld auch nicht vermehren, ich will es nur sicher anlegen – für meine kleine Tochter!“
Fassungslos starrte der kleine Teufel sie an. Wo gab es das noch heutzutage –einen Kunden, der nicht auf Pump lebte und der sein Geld nicht vermehren wollte! Der es gar für sein Kind, für das Wohlergehen der nächsten Generation, sparen und anlegen wollte! Nein, dieses Wesen war nicht von dieser Welt, es musste… es konnte wahrlich nur …ein Engel sein!
Verstört und mit hochrotem Kopf füllte der kleine Teufel den Antrag auf Eröffnung eines Sparkontos aus. Und bat den Engel, morgen wieder zu kommen, dann würden alle Formalitäten erledigt seien.
Bevor sie ging, fragte sie ihn, ob er das alte Sprichwort kenne: ‚Gott hat die Liebe geschaffen und der Teufel das Geld?’
Die folgende Nacht drückte der kleine Teufel kein Auge zu; das Bild dieses blond gelockten Engels mit den feinen Grübchen und Glückszeichen in den Mundwinkeln
ließ ihn nicht los, ein Wesen so voller Anmut, Wärme und Liebreiz war ihm noch nie begegnet. Und wie klug sie war! „Gott hat die Liebe erschaffen und der Teufel das Geld!“… Ach, dachte der kleine Teufel und seufzte schwer: Leider gehörte er mit seinem Jahresgehalt und seinen üppigen Boni und seinem Schweizer Nummernkonto eindeutig auf die andere, die teuflische Seite, die ein so lauteres Wesen wie sie wohl nur meiden und verachten konnte.
Am nächsten Morgen kam sie wieder in die Bank, diesmal in Begleitung ihrer kleinen Tochter. Die war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, hatte dieselben feinen Grübchen in den Mundwinkeln und war überhaupt ein so süßes Wesen mit ihren geflochtenen Zöpfchen und ihrem leicht lispelndem Singsang, dass unser kleiner Teufel nicht wusste, in wen er mehr verliebt war: in die Tochter oder die Mutter!
Obwohl sie keinen Anlage-Berater brauchte, machte er unter irgendwelchen Vorwänden, noch zwei weitere Termine mit ihr aus, denn er wollte und musste sie unbedingt wieder sehen. Schließlich fasste er sich ein Herz – denn der kleine Teufel war in Wirklichkeit ziemlich schüchtern – und lud sie ins Café ein. Dabei machte er die beglückende Erfahrung, dass er sich mit ihr wundervoll unterhalten konnte, eben weil sie sich gar nicht für Geld, Anlagen und Geschäfte, auch nicht für Lifestyle und Sport interessierte, dafür umso mehr für die Menschen, auch für das verborgene und verschüttete Menschlein, das in ihm, dem kleinen Teufel, steckte.
Von nun an trafen sie sich einmal die Woche und gingen zusammen spazieren. Die ganze Woche freute sich der kleine Teufel auf das Rendez-Vous mit seinem Engel und auf die interessanten Gespräche, die sie miteinander führten. Und allmählich dämmerte ihm, worin das eigentlich teuflische Prinzip des modernen Geld- und Finanzwesens bestand, dem auch er diente: Es machte die Menschen nicht nur süchtig, indem es ihre Geld- und Habgier anstachelte, es zerstörte auch, indem es sie unter einen dauernden Stress setzte, ihre mitmenschlichen Beziehungen. Da sie fast ihre ganze Lebenszeit für das Geldverdienen, Geldvermehren und Konsumieren verausgabten, hatten sie kaum mehr Zeit füreinander – denn Zeit ist Geld!
Unser kleiner Teufel fühlte sich wie verwandelt. Oft hatte er jetzt, während seine Augen am Bildschirm oder am Ticker mit den neuesten Börsen-Nachrichten zu haften schienen, ein abwesend seliges Lächeln im Gesicht. Immer häufiger kam es vor, dass er über seiner Liebe seine Arbeit vergaß, Fragen der Kunden unbeantwortet ließ oder während der Konferenzen in Tagträumereien fiel. Auch geschah es, dass er neuerdings Kunden abriet, gewisse Wertpapiere, die er hinter vorgehaltener Hand als „Schrottpapiere“ klassifizierte, zu kaufen, ihnen dagegen empfahl, ihr Geld wie früher in Sparbriefen anzulegen, die zwar nur einen geringen Ertrag brachten, dafür aber solide und sicher waren.
In der Bank blieb es natürlich nicht unbemerkt, dass der kleine Teufel nicht nur an auffälligen Absenzen litt, sondern sich geradezu geschäftsschädigend verhielt, in dem er neuerdings das Wohl der Kunden statt das der Bank im Auge hatte. Der vorgesetzte Oberteufel bestellte ihn zu sich und forderte eine Erklärung für sein Verhalten und seine schlechte Verkaufsquote. Der kleine Teufel druckste ein wenig herum und rückte schließlich kleinlaut mit der Sprache heraus. Sein Vorgesetzter staunte nicht schlecht. So etwas war ihm in seiner langen Laufbahn noch nicht vorgekommen.
„Und sie,“ fragte er neugierig „mag sie dich denn auch?“
Der kleine Teufel errötete noch mehr, drehte verlegen den elektronischen Rechner in seinen Händen und murmelte dann etwas wie: „Ich weiß nicht… ich glaube schon… es gibt Andeutungen, Zeichen… aber wer wird denn schon schlau aus einem Engel?“ –
„Du weißt“, der vorgesetzte Oberteufel blickte ihn tadelnd an, „dass nach unseren Statuten die Liebe strengstens verpönt ist. Sex kannst du haben, so viel du willst, aber die Liebe, die so genannte Himmelsmacht der Liebe, die den Menschen von Grund auf verwandelt und ihn dazu verleitet, wieder an das Gute, Wahre und Schöne zu glauben, an Menschlichkeit, Uneigennützigkeit und Güte – ist ruinös für die Geschäfte, ruinös für den Markt und daher unvereinbar mit den Statuten unseres Unternehmens.“
Mit diesen Worten entließ ihn der Vorgesetzte. Der kleine Teufel rechnete fest mit seiner Entlassung. Umso erstaunter war er, als der Vorgesetzte ihn zwei Tage später wieder zu sich bestellte und sprach:
„Nun gut! Wenn du innerhalb von drei Tagen drei große Teufeleien ins Werk setzt, dann werden wir eine Ausnahme von unseren Statuten machen und dir die Liebe ermöglichen.“
Der kleine Teufel stieß einen Jubelschrei aus – und machte sich voller Elan sogleich an die Arbeit. Jetzt zeigte sich, dass er nicht umsonst seinen Master in Informatik gemacht und sich jahrelang heimlich als Hacker betätigt hatte. Am ersten Tag erschuf er den „unbekannten Systemfehler“ und implantierte ihn in alle Computer und Computer-Netzwerke. Am zweiten Tag schuf er die Warteschleifen in den Hotlines für Computerprobleme, welche die Menschen, die an „unbekannten Systemfehlern“ verzweifelten, in den schieren Wahnsinn trieben. Am dritten Tag setzte er den Höhepunkt: Als alle Menschen vor ihren Computern oder am Telefon verzweifelten, ließ er im ganzen Land den Strom ausfallen.
Von seinen drei teuflischen Werken erschöpft, wankte der kleine Teufel durch die dunkle Stadt nach Hause. Da natürlich auch der Fahrstuhl nicht mehr ging, musste er die drei Stockwerke zu seinem Loft hinaufgehen. Vor der Wohnungstür aber wartete schon sein Engel:
„Göttlich! Einfach göttlich, was du da gemacht hast“, rief sie mit glänzenden Augen und fiel ihm um den Hals. Der kleine Teufel verstand nicht so recht. „Jetzt wo alles dunkel ist und die Computer und Bildschirme nicht mehr laufen,“ erklärte sie ihm, „beginnen die Menschen endlich wieder miteinander zu reden. Weißt du, dass ich davon immer geträumt habe!“
„Aber dann war es ja gar keine rechte Teufelei“ entgegnete der kleine Teufel geknickt, „und mein Vorgesetzter wird mir nie die Liebe ermöglichen!“ Er begann leise zu weinen und ließ seinen Kopf hängen.
„Ach du dummer kleiner Teufel,“ sagte der Engel und fuhr mit den Fingern sanft über seine gepiercten Lippen, „von Liebe versteht ihr einfach nichts. Das ist unser Bereich. Niemand kann dir die Liebe ermöglichen. Sie ist einfach in dir drin.“
Da horchte der kleine Teufel in sich hinein und merkte, dass sie Recht hatte.
Er schloss sie in seine Arme und bedeckte ihren Mund mit vielen Küssen. Dann gingen beide Arm in Arm zurück in die Stadt, auf deren Straßen und Plätzen sich ihnen ein unbeschreiblicher Anblick bot: Da der Strom ausgefallen war, hatten die Menschen überall Kerzen und Fackeln angezündet, mit denen sie singend und tanzend durch die Gassen und Straßen zogen. Sektkorken knallten, Musik schallte aus allen Fenstern und Türen, die Menschen sprachen wieder und lachten miteinander. Es war, als ob der plötzliche Ausfall der Computer und Bildschirme sie aus einer langen Betäubung erweckt und sie endlich einander wieder erkannten – als Nachbarn und Freunde, als Brüder und Schwestern, die einander viel mehr zu sagen hatten als die idiotischen Talkmaster und Tele-Divas, die ihnen ihre Träume stahlen, viel mehr auch, als ihre anonymen Partner in den Chatrooms und Internet-Foren.
So geschah es, dass in dieser denkwürdigen Nacht, die später als „Nacht der Erweckung“ in die Annalen der Geschichte eingehen sollte, die vertriebenen Engel wieder zurückkehrten. Die Statistiker aber registrierend staunend, dass neun Monate später die – bis dato rückläufige – Geburtenrate des Landes wieder steil nach oben ging.
Wenn Ihr also das nächste Mal vor eurem PC oder Laptop verzweifelt, denkt immer daran, dass das ein kleiner Teufel aus Liebe getan hat und dass in diesem Moment – vielleicht – ein Engel hinter euch steht.
Bild von Dorota Kudyba auf Pixabay
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der fixen Autoren von TKP wieder.
Prof. Dr. Michael Schneider ist Roman- und Theaterautor, Essayist und Zauberer. Seine Bücher.
Originalbeitrag: https://tkp.at/2022/12/22/die-rueckkehr-der-engel-ein-maerchen-von-michael-schneider-nach-einer-idee-von-andreas-menck/