Ein Versuch, zu verdeutlichen, wie die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und einfÀrbt. Auf wie vielen Ebenen das stattfindet und wie ich mich da durch begleite. Anja Reiche

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Situation aus dem Jetzt – Ich als Erwachsene im Kontakt mit meinem Vater:

Ein verpasster Anruf auf meinem Handy. Eine Textnachricht von ihm hinterher: „Hallo, mein Liebling, warum gehst du nicht ans Telefon?“

Ein kurzer Satz. Scheinbar eine einfache Frage. Unterschiedlichste Botschaften in einer Aussage. Unterschiedlichste GefĂŒhle werden in Millisekunden in mir ausgelöst. Es fĂŒhlt sich an, als wĂŒrde es nicht um das gehen, nach dem gefragt wird. Auf welcher Ebene antworte ich?

Eine unfassbare Wut kommt hoch. Ich hab die Schnauze voll von dieser verdrehten, verkorksten, unklaren und fĂŒr meine Begriffe unterschwelligen Kommunikation. Was soll ich verdammt nochmal mit dieser Frage anfangen? Es fĂŒhlt sich an, als mĂŒsste ich mich erklĂ€ren. Es fĂŒhlt sich an, als mĂŒsste ich zur VerfĂŒgung stehen. Alles scheinbar enthalten in dieser kurzen Frage. Echt, geht es jetzt wirklich darum, weshalb ich nicht ans Telefon gehe? Ich hab das Handy lautlos. Seit Jahren. Hab ich hundert Mal gesagt. Bist du jetzt zufrieden? Ist es wirklich das, was du wissen wolltest?

Ich könnte kotzen. Tippe wĂŒtende Worte und dann kommt die ErnĂŒchterung.

Meine Wut und Verzweiflung wĂŒrden nicht verstanden werden. Wurden sie nie. Ohnmacht.

Soll ich mich dennoch in Kontakt bringen, auch wenn es der andere nicht versteht? Mir doch egal, wenn er damit nichts anfangen kann.

Ich lese die Frage nochmal. Lese sie neutral, wie wenn ich sie irgendwo in einem Buch lesen wĂŒrde. Lese sie, als wĂŒrde der andere sich wirklich dafĂŒr interessieren, wieso ich nicht ans Telefon gehe. Was faktisch stimmt. Ich lösche meine Worte. Ich tippe neu.

„Ich geh Ă€ußerst selten ans Telefon. Es ist seit Jahren lautlos gestellt. Wenn ich also nicht zufĂ€llig das Handy in der Hand habe und sehe, dass jemand anruft, krieg ich es Gott sei Dank nicht mit. ZurĂŒckrufen tu ich auch fast nie. Ich mag das sehr. Meistens passt nĂ€mlich der Anruf nicht zu dem, mit was ich mich gerade befasse und was in mir lebendig ist und wĂŒrde daher stören. Ich mach nur das machen, was wirklich stimmig ist. Danke fĂŒr die Frage.“

Ich spĂŒre Erleichterung, es genau so zu sagen, wie ich es eben empfinde. Wie es fĂŒr mich stimmt. Sollen die anderen doch mal damit klarkommen, wie ich bin und nicht umgekehrt, ich immer mit dem klarkommen, wie die anderen eben sind und was sie brauchen. Die Erleichterung ist nicht lange da.

Da ist die Stimme, die mir sagt. „Schau mal, er interessiert sich doch fĂŒr dich. Will Kontakt mit dir. Das wolltest du doch immer. Und jetzt gibst du ihm keine Möglichkeit mit dir zu sprechen. Er meint es doch nur gut.“ SchuldgefĂŒhle kommen hoch. Gewissensbisse. Ist das ungerecht? Ich stelle mir vor, wie das GesprĂ€ch laufen wĂŒrde. Interesse ist vielleicht da, aber an Dingen, auf die es mir nicht ankommt. Materiell, oberflĂ€chlich und nicht zwischenmenschlich. Die Dinge, die mich interessieren haben darin keinen Platz. Und das, was ihn beschĂ€ftigt, will ich nicht hören. Es langweilt mich zu Tode. Alte Suppe. Schimpfen. Nichts daran Ă€ndern. Immer wieder das Gleiche. Wieso sollte ich mich dazu zur VerfĂŒgung stellen? Trotz kommt hoch. Wenn er sich wirklich fĂŒr mich interessieren wĂŒrde und das, was mich bewegt, kann er alles auf meinem Blog lesen. Mehr oder was anderes könnte ich ihm auch nicht erzĂ€hlen. Ich bin doch schon mit allem sichtbar.

Auf der oberflĂ€chlichen Ebene, auf der wir uns gewöhnlich bewegen, will ich keine Begegnung. Ich spĂŒre einen Anteil, der sich nicht entziehen darf. Der nicht enttĂ€uschen darf. Der bleiben muss, damit es dem anderen gut geht. Ich habe Kontakt haben zu wollen, aber nach seinen Bedingungen. Da ist eine Erwartungshaltung. Ich darf keine unangenehmen GefĂŒhle im anderen auslösen. Nur schöne. Und die werden eingefordert.

Ich richte mich viel zu sehr nach ihm, nach anderen. Ich verlasse mich. Passe mich der Welt des anderen an.

„Aber er vermisst dich doch!“ Er vermisst mich. Er vermisst MICH? Er vermisst SICH und ich soll den Schmerz lindern. Es geht nicht um mich, sondern darum wie er sich fĂŒhlt, wenn ich da bin. Ich werde missbraucht. Ich soll ein Loch fĂŒllen.

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Was sich hier zutrÀgt, ist eine Reinszenierung aus der Kindheit.

Das Dilemma der Kindheit – Beziehung als unlösbare Aufgabe –

wenn der Erwachsene keine Verantwortung fĂŒr seine GefĂŒhle ĂŒbernimmt.

Entweder bleibe ich als Kind im Kontakt, beliefere und verlasse mich dafĂŒr – Schmerz!!! – oder ich wehre mich, verlasse mich nicht, liefere nicht, enttĂ€usche den anderen und werde dann bestraft, Schuldzuweisung, VorwĂŒrfe – Schmerz!!!

Als Kind unlösbar. Der Brocken, die Aufgabe ist zu groß und vor allem nicht zu bewĂ€ltigen.

Überforderung

Not

Verzweiflung

Wut

Was wieder nicht sein darf, weil der Erwachsene damit nicht umgehen kann. Strafe. Zurechtweisung. Regularien.

Mit all dem alleine sein. Nicht begleitet werden. Niemandem davon erzĂ€hlen können. Wieder Überforderung.

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Körperlicher Aspekt aktuell:

Brockenkonflikt (nach der germanischen Heilkunde) ist jetzt als Erwachsene aktiv – Der Darm will helfen, versucht beim Verdauen dieses Brockens zu unterstĂŒtzen. Bei mir KrĂ€mpfe, BlĂ€hungen, Durchfall, Appetitlosigkeit, Übelkeit, sattes GefĂŒhl. Da gibt es erstmal genug zu verdauen.

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Dieses Dilemma des Kindes von damals ist in der Gegenwart in mir aktiv. Ich als Erwachsene spĂŒre die Verzweiflung des Kindes. Ich sehe das Kind. Verstehe es. Bin da mit ihm und mir gleichermaßen. Hör ihm zu. Endlich hört diesem Kind jemand zu und endlich versteht jemand, was es sagt, empfindet, sieht das unlösbare Problem.

Gehen, die Situation verlassen, war damals keine Option. Das kam schlicht nicht vor im Repertoire des Kindes. Wie auch? Und so fĂŒhlt es sich auch heute an. Etwas in mir denkt immer noch, dass ich in Kontakt bleiben muss und es nur darum geht, darin möglichst unbeschadet zu bleiben.

Ich bin noch mittendrin in dieser Selbstbegleitung. Es wirkt und wogt in mir. Ich beobachte. Forsche. Lass es geschehen. Schaue hin. Schaue zu. Erkenne. FĂŒhle.

Ich mag innerlich an den Punkt zurĂŒckgehen, an dem ich diese Verantwortung fĂŒr die GefĂŒhle von meinem Vater ĂŒbernommen habe. Dort mag ich hinschauen und dann die göttliche Ordnung geschehen lassen. Da darf Gott passieren und „korrigieren“.

Danke: https://www.facebook.com/anja.reiche